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Abiturrede 2008 - Herr Tobias Grehl

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten,
liebe Eltern,
liebe Gäste,
liebe Kolleginnen und Kollegen,

Wege - Wege sind etwas Vielfältiges.

Sie können zum Ziel führen, können Verbindungen schaffen. Manchmal muss man etwas aus dem Weg räumen, um anzukommen. Wege können Zugänge zu unbekannten Welten öffnen. Es gibt Holzwege, Umwege und Sonderwege. Und bekanntlich führen viele Wege - wenn auch nicht alle - nach Rom. An manche Wegstrecke erinnert man sich gerne zurück, an andere weniger. 

Wege können sehr unterschiedlich gestaltet sein: Geradlinig können sie verlaufen, gut gepflastert können sie sein. Das ist aber in den seltensten Fällen so, denn die meisten Wege sind kurvig oder hindernisreich. Es gibt steinige und holprige Wege, die man gehen muss. Sie können kurz oder lang, eben oder steil, sicher oder risikobehaftet sein.

Ein Weg ist von ganz besonderer Art. Dieser Weg ist nicht äußerlich sichtbar, dennoch gehen ihn alle Menschen seit Beginn ihres Lebens. Dieser Weg ist - wie seine Begeher - einzigartig und von ganz persönlichem Wert. Auf diesem Weg, der mit jedem Schritt wächst, sind alle Erfahrungen zu finden, die der Einzelne - gezielt oder zufällig - in seiner Entwicklung bisher machen konnte. Er ist noch nicht festgelegt und kann in viele verschiedene Richtungen verlaufen, es ist der Lebensweg.

Lebenswege sind in ihrer Form und ihrem Verlauf nicht starr. Sie können sich ändern, je nachdem, was den Weg kreuzt. Manchmal steht man an einer Weggabelung und muss sich für eine Richtung entscheiden. Dabei spielen persönliche Erfahrungen und Einschätzungen eine mindestens genauso große Rolle wie die sich gerade bietenden Möglichkeiten.

Bei der Bewertung eines Weges muss man vorsichtig sein vor übereilten Einschätzungen. Vom äußeren Erscheinungsbild eines Lebensweges kann nicht mit Sicherheit auf seinen bisherigen Verlauf geschlossen werden. Hier kann der Schein trügen, denn niemand weiß genau, wie die Lebenswege anderer Menschen verlaufen sind, wodurch sie geprägt wurden.

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, die meisten von euch haben vor neun Jahren einen Weg begonnen, der an dieser Stelle, in der Aula des Hannah-Arendt-Gymnasiums seinen Anfang nahm. Ihr habt euch damals auf den Weg zum Abitur gemacht.

In der Grundschule wart ihr die Größten, hier auf einmal wieder die Kleinsten. Welche Gedanken und Gefühle hattet ihr am Beginn in der neuen Schule? Welche Probleme oder Ängste mussten bewältigt werden? Worauf richtete sich eure Aufmerksamkeit? Auf das große Gebäude? Die vielen neuen Menschen? Vielleicht aber auch mit Wehmut zurück auf die vertraute alte Klasse und die überschaubarere kleine Welt in der Grundschule. Einige von euch begannen ihren Weg zum Abitur an anderen Schulen und stießen später, meist ab der Oberstufe, dazu.

Diese langen Wege gehen nun ihrem Ende entgegen, man könnte auch sagen: "Der Countdown läuft". Ich glaube, es war noch vor den Herbstferien, als ich im Unterricht diesen Satz zum ersten Mal auf der Innenseite des Ordners einer Schülerin gelesen habe. Er war so groß geschrieben, dass er mir beim Rumlaufen während einer Stillarbeitsphase ins Auge sprang. Darunter befand sich ein Kalender, auf dem die verbleibenden Schultage nummeriert waren und - natürlich Tag für Tag abgestrichen wurde. Es erinnert an Filme oder Comics mit Gefangenen, die ihre Restzeit bis zum Beginn ihrer Freiheit zählen. Als drittes Element der liebevoll gestalteten Innenseite war ein Bild der Schülerin zu sehen - dem Motto gemäß natürlich laufend.

"Der Countdown läuft". Dieses Modell hat - wie man hört - Verbreitung in der Stufe gefunden. Die noch ausstehenden vielen Prüfungen vor Augen, wurde die Zeit überschaubar und sichtbar gemacht, materialisiert. Keine schlechte Methode. Und nun geht er wirklich seinem Ende entgegen: Die letzte Kursarbeit, das schriftliche Abitur, die letzte HÜ, die letzte Unterrichtsstunde, die letzte Prüfung: das mündliche Abitur: Aus und vorbei, ein Grund zur Freude, denn das langersehnte Ziel ist nun erreicht.

Jetzt seid Ihr erneut an einer Weggabelung angelangt. In wenigen Minuten, wenn Ihr hier auf die Bühne geht und eure Abiturzeugnisse erhalten werdet, endet der offizielle Wegabschnitt am HAG. Spätestens heute Abend trennen sich die gemeinsamen Wege und die Verbindungen lösen sich in einzelne Richtungen. Ihr steht nun wieder am Beginn eines neuen Wegabschnitts, seid wieder die Jüngsten, doch auf anderem, höherem Niveau, auf dem ihr nun viel mehr selbst zu verantworten haben werdet. Diesen Punkt habt ihr euch herbeigesehnt, vor allem nach der letzten, anstrengenden Zeit. Ihr seid den schulischen Zwängen entronnen und habt nun die Freiheit euren weiteren Lebensweg zu planen. Aber was hat es mit dieser Freiheit genau auf sich? Unter welchen Bedingungen und Möglichkeiten geht es weiter?

Was können Entwicklungen und Erfahrungen während der letzten 9 Jahre dazu beitragen? Liebe Zuhörer, lassen Sie uns ein wenig zurückschauen, lassen Sie uns auch überlegen, welche Auswirkungen auf die Zukunft zu erwarten sind.

Die Sehnsucht nach Freiheit wird an vielen Stellen in eurer Abizeitung deutlich: Einige von euch schreiben dort, dass sie möglichst viel von dieser weiten Welt sehen möchten. Das ist sicherlich kein schlechter Weg. Die eine oder andere Reise außerhalb unseres Hauses, an die ihr hoffentlich gute Erinnerungen habt, konnte dafür bestimmt gute Grundlagen legen: Berlin, Besancon, Viroflay, Barcelona, Kluczbork, Amsterdam, Budapest, Prag oder Wien waren einige der weiter entfernten Reiseziele eures Jahrgangs in den vergangenen Jahren. Und davon wurde rege Gebrauch gemacht. Ich erinnere mich, dass ich in der elften Klasse Schüler hatte, die allein im Schuljahr 05/06 insgesamt vier Mal das vielfältige Fahrten-Angebot nutzten und auf Tour gingen. Nachdem ich ein bisschen an der reisebedingten geringen Anwesenheit im Unterricht rumgemeckert hatte, erklärte mir der Kurs, dass Reisen doch bilde und dass die gewonnen Erkenntnisse viel wichtiger seien als sich mit der Differenzialrechnung auseinanderzusetzen. Vermutlich stimmt das sogar, denn "Reisen ist die Sehnsucht nach dem Leben", so Tucholsky. Und auf das Leben soll die Schule ja nun gerade vorbereiten. Es bleibt zu hoffen, dass sich die Veränderungen durch Terror und Kriege nicht weiter negativ auf die Umgangsformen und die Freiheit in der Welt auswirken werden. Auch das geschah in den vergangenen neun Jahren. Es weiß sicherlich jeder hier im Saal, was er am Nachmittag des 11.9.2001 gemacht hat. Die Folgen der Geschehnisse für die Welt sind bekannt, positiv sind sie nicht. Der Diskurs zwischen Freiheit und Sicherheit beschäftigt seitdem die demokratischen Gesellschaften stärker als zuvor, nicht immer zu Gunsten der Freiheit.

Bei einer anderen Reise wart ihr noch nicht dabei, ihr wart noch zu jung. Im August 2000 reiste ein großer Teil der Schulgemeinschaft zur Weltausstellung nach Hannover. "Mensch, Natur und Technik - Eine neue Welt entsteht" lautete das Thema der Expo 2000. Themen, die auch euren Unterricht in den folgenden Jahren in verschiedensten Formen immer wieder durchziehen sollten. Heute seid ihr in der Lage an Debatten über die Gestaltung der Gesellschaft der Zukunft teilzunehmen. Sicherlich auch Dank des Unterrichts in den Natur- und Gesellschaftswissenschaften oder der Literatur in den sprachlichen Fächern. Leider sind die dort dargestellten Welten nur selten positiv.  

Natürlich trägt der technische Fortschritt zur Erleichterung des Alltags bei. Auch hier hat sich während der vergangenen 9 Jahre einiges getan. Neue Freiheiten sind entstanden. Man denke nur an die Verbreitung des Internets und die damit zusammenhängenden Informationsmöglichkeiten oder an Handys, die im Jahre eures HAG-Eintritts 1999 noch fast Telefonzellenformat hatten und tatsächlich nur zum Telefonieren da waren. Virtuelle Klassenzimmer erlauben mittlerweile die teilweise Verlagerung des Unterrichts in die Online-Welt. Es ist klar, dass die Schüler eurer Generation im Umgang mit Medien deutlich kompetenter die Schule verlassen als dass bei meiner, noch gar nicht so lange zurückliegenden Schulzeit der Fall war. Das ist gut so, denn es ist notwendig, um in der Berufs- und Arbeitswelt zu bestehen, denn die Zukunft wird immer schneller.

Doch übertriebene Technikgläubigkeit hat schon an vielen Stellen der jüngeren Menschheitsgeschichte zu Katastrophen geführt. Nicht zu vergessen sind daher auch die Schattenseiten der Entwicklungen der letzten Jahre, die gar nicht weit vom Einzelnen entfernt sind. Ich denke da an Technik als Instrument zum Ausspionieren oder gar als Mittel zur gesellschaftlichen Stigmatisierung. An den gläsernen Menschen, dessen Daten in sozialen Netzwerken von Personalchefs einsehbar sind, für den ein Bewegungsprofil mit Handy-Daten oder abgescannten Autonummern erstellt werden kann, dessen Verbindungsdaten dauerhaft gespeichert werden, der - einmal aufgenommen - für immer in "you tube" zu finden ist, kurzum: dessen Recht auf die Freiheit der informationellen Selbstbestimmung immer kleiner wird. Liebe Zuhörer, Sie erinnern sich an die Vorgehensweise: Vergleichen Sie den Stand der Dinge vor neun Jahren und heute. Kritisch bleibt allerdings anzumerken, dass viele Menschen sich der Gefahren nicht bewusst sind und allzu unbedarft und gleichgültig mit ihren neuen Freiheiten umgehen.

Das Hannah-Arendt-Gymnasium ist seit einiger Zeit Vorreiter bei der Ausrüstung und der Integration moderner Technik und Medien in Schule und Unterricht. Ich denke, eure Reifezeugnisse dokumentieren nicht nur die Fähigkeit zum Umgang mit modernen Medien, sondern auch das damit einhergehende, notwendige Verantwortungsbewusstsein.

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, so wie sich in den letzten neun Jahren die Welt verändert und entwickelt hat, so habt auch ihr euch entwickelt. Ihr konntet im Verlauf der langen Schulzeit vielfältige Eindrücke sammeln, die euren Lebensweg mitgeprägt haben. Welche Richtung ihr dabei eingeschlagen habt, war abhängig von den angebotenen Wegen, aber auch von eurer individuellen Bereitschaft diese Pfade anzunehmen oder dem Reiz sie zu verlassen.

Die Bandbreite möglicher Gedanken und Gefühle in Abschiedssituationen ist groß. An solchen Tagen wie heute sollte man neben den verdienten Feierlichkeiten auch für sich persönlich innehalten und über das Erlebte Bilanz ziehen: Welchen Weg würde ich wieder gehen? Wo würde ich mit dem jetzigen Wissen eine andere Richtung einschlagen? Wer hat mir geholfen?

Dabei werdet ihr feststellen, dass ihr von einigen Menschen ganz besondere Unterstützung erfahren habt: Von euren Eltern, die euch stets ermutigt haben euren Weg zu gehen, die aber auch die eine oder andere Entscheidungshilfe gegeben haben. Sie werden das bestimmt weiterhin tun. In vielen Teilen der Abizeitung ist zu lesen, dass ihr dafür sehr dankbar seid.

Andere Verbindungen werden sich nun lösen. Doch auch wenn die Wege sich bald äußerlich trennen werden, Kontakte zu Mitschülern sich reduzieren werden, so bleibt ihr doch durch eure gemeinsamen Erfahrungen innerlich verbunden.

Wenn Ihr nun nach fast neun Jahren euren Weg am HAG beendet und die Schulgemeinschaft verlasst, nehmt ihr - neben der hoffentlich großen Anzahl konkret verinnerlichter Wissensinhalte - alle etwas für das Leben mit. Ich hoffe - bei allen rollenbedingten Kontroversen und Gegensätzen - konnten wir Lehrer euch dabei auch den einen oder anderen interessanten Weg aufzeigen, der euch weitergebracht hat und noch weiterbringen wird, sei es fachlich oder methodisch, sei es persönlich oder menschlich.

Wir wünschen euch, dass ihr in eurem Leben mit aufgewecktem Verstand das Wichtige vom Unwichtigen unterscheiden könnt und nicht das Unwichtige zum Herrn eurer Zeit wird.

Wir hoffen, dass ihr dafür Freunde findet, die mit euch durchs Leben gehen, euch aufrichtig helfen und unterstützen, euch aber, falls nötig, auch anstoßen und Wege aufzeigen werden, in guten wie in schlechten Zeiten.

Wir wünschen euch die Erfahrung von Freiheit in eurem Leben, so dass ihr selbstbestimmt handeln und euren Lebensweg gehen könnt, wie ihr es euch vorstellt und erhofft.

Ebenso hoffen wir, dass ihr selbst tolerant gegenüber anderen Lebenswegen und Positionen sein könnt, denn "Freiheit ist auch immer die Freiheit des Andersdenken". Wir hoffen deshalb auch, dass ihr bereit seid, euch einzubringen und zu engagieren, aus der Masse aufzustehen, wo ihr Ungerechtigkeiten erkennt oder gar Menschenrechte gefährdet werden.

Wir wünschen euch die Möglichkeiten euch selbst zu verwirklichen, eure Wünsche und Träume anzugehen. Nutzt den Weg zu euren Zielen nicht nur als ablaufende Zeit, begreift sie nicht nur als Countdown, sondern als sinnvolle und schöne Lebenserfahrung. Auch der Weg kann bekanntermaßen ein Ziel sein, selbst wenn er anstrengend ist.

Wir hoffen aber auch, dass ihr kritisch und aufgeklärt mit gesellschaftlichen, politischen und technischen Fortschritten und Veränderungen umzugehen wisst, sie auf eurem Lebensweg nutzt, wo es wirklich sinnvoll erscheint, aber nicht alles kritiklos und unüberlegt hinnehmt.

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, sorgt dafür, dass eure Wege lebendig, vielfältig und interessant verlaufen. Behaltet eure Ideale dabei in den Augen und engagiert euch für sie. Auch in Zeiten von GPS und Navigationsgeräten ist der eine oder andere Umweg zulässig und manchmal erkenntnisreicher als die kürzeste und direkte Strecke. Selbst wenn man mal von der eigentlichen Planung abkommt, gibt es stets neue Routen zurück zum Ziel. Hermann Hesse formuliert es ähnlich und mit diesem Satz möchte ich schließen: "Das Leben eines jeden Menschen ist ein Weg zu sich selbst."

Ich wünsche euch viel Glück auf euren Wegen.  


Autor: Tobias Grehl