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Abiturrede 2022 - Herr Martin Deckert

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten,
verehrte Eltern,
liebes Kollegium,
sehr geehrte Gäste!

Nach vielen Jahren ist der Moment gekommen, an dem ihr am Ziel angelangt seid. Die Verleihung des Abiturzeugnisses gibt diesem Ende Eurer Schulzeit einen würdigen Rahmen. Vielen Dank dafür, dass Ihr mich gebeten habt, ein paar Worte dazu zu sprechen.

Die heutige Feierstunde mag ein ersehntes Ende Eurer Schulzeit darstellen. Ist es wirklich ein Ende? Das Abiturzeugnis ist vielmehr ein Zwischenhalt. Ein Zwischenhalt von vielen in Eurem Leben. Deswegen möchte ich diesen heutigen Haltepunkt nutzen, um inne zu halten - anzuhalten.

Halten - ein kleines Wort mit viel Bedeutung. Es versteckt sich auch in vielen anderen Begriffen.

Zum Beispiel in „Verhalten“. Ihr erinnert Euch? Diese besonders aussagekräftige Note in Euren Zeugnissen bis Klasse 9!

Oder auch im Begriff „behalten“. Manche von Euch haben das ja perfektioniert, den Lernstoff bis zur nächsten Kursarbeit zu behalten – und bloß keinen Tag länger.

Das Wort „halten“ steckt auch in „vorenthalten“. Ihr seid der Jahrgang, den die Pandemie während der Oberstufe durchgängig begleitet hat. Zeitweise wurde Euch in Klasse 10 und 11 der Unterricht vorenthalten. Es gab Schulschließungen und andere Einschränkungen.

Vorenthalten blieben Euch Abipartys und viele schulische Veranstaltungen. Keine Kursfahrt, keine Mathe-Nacht, keine Austausch-Fahrten, keine Projektwoche, keine Theater-Aufführung, kein Konzert und vieles andere auch nicht.

Ihr habt da ganz schön etwas durchmachen müssen, etwas „aus-halten“ müssen.

Euren Abistreich und die Mottowoche im April – als solche habt ihr Eure einwöchige Abschiedstournee durch das Schulgebäude getarnt – habe ich als Ventil und ein Ausdruck des Nicht-mehr-aushalten-Könnens wahrgenommen.

Auch wir Lehrer haben das ausgehalten – aber gerade noch so!

Die ersten von Euch habe ich vor fünf Jahren kennengelernt. Im Sommer 2017. Wahlpflichtfach Informatik in Klasse 8. Ich erinnere mich, wie ihr mit viel Spaß und einem gewissen kindlichen Enthusiasmus in den Unterricht gekommen seid. Ihr habt dort eine Webseite über Euch und Eure Hobbies erstellt. Ihr habt Euch Algorithmen ausgedacht, damit Roboter Karol Ziegelsteine auftürmt und den Scratch-Zauberstift so programmiert, dass er das Haus vom Nikolaus eigenständig zeichnet.

Noch spannender war es für manche von Euch, Moorhühner zu schießen und Flugenten abzuballern. Da habe auch ich aushalten müssen, dass ihr nicht abzuhalten wart, eigenwillig zu sein.  

Heute - vier, fünf Jahre später - ist zwar die Eigenwilligkeit noch unverändert da, aber der kindliche, unbeschwerte, leichte Umgang mit den Dingen hat sich im Lauf der Jahre in eine ernstere und nachdenklichere Sicht auf die Dinge verwandelt.

Der heutige Tag markiert einen Haltepunkt nach einer für einige von Euch schwierigen und anstrengenden Wegstrecke, auf der ihr so manches habt aushalten müssen. Deswegen lohnt es sich darüber nachzudenken, wer oder was Euch auf diesem Weg Halt gegeben hat. Wer oder was Euch gehalten hat.  

Zugegeben - einigen von Euch fiel die Umstellung auf Homeschooling, Videokonferenzen und Moodle-Abgaben nicht so schwer. Doch andere hatten mit Selbstorganisation, unzureichender Technik, der damit einhergehenden Frustration und vielleicht auch mit der nicht zu bewältigenden Stoffmenge zu kämpfen.

In der Rückschau betrachtet habt ihr bei der Bewältigung dieser widrigen Umstände sehr wichtige Erfahrungen gemacht. Denn ihr wart in der Lage, die Situationen dann doch irgendwie auszuhalten, zu überstehen und zu verkraften. Hilfe, die ihr gebraucht habt, habt ihr Euch geholt. Zusammenhalt mit Freundinnen und Freunden, die Unterstützung Eurer Eltern oder Eure eigene Willenskraft - all das hat Euch Halt gegeben, gestärkt und in der Bahn gehalten. Und ihr habt es geschafft!

Mit dem Abiturzeugnis begebt ihr Euch nachher - nach diesem Zwischenhalt hier - weiter auf eine noch unbekannte Wegstrecke.

Dabei bescheinigt Euch das Abiturzeugnis, dass ihr in den von Euch gewählten Fächern über fachliche Kompetenzen verfügt und auch übergreifende methodische Kompetenzen besitzt. Das Abiturzeugnis bescheinigt Euch die Fähigkeit, eine kompetente Einordnung fachlicher Thesen vornehmen zu können und faktenbasiert zwischen Wahrscheinlichem und Unwahrscheinlichem unterscheiden zu können. Widersprüchliches von synoptisch Plausiblem unterscheiden zu können.  

Wir erleben derzeit eindrücklich, dass in ein und demselben Sachzusammenhang mitunter ganz verschiedene Wahrheiten konstruiert werden. Verschiedene Wahrheiten, die sich manchmal diametral gegenüberstehen und in ihrer Interpretation und Anwendung brutale Konsequenzen bewirken.

Der österreichische Biophysiker und Philosoph Heinz von Foerster sagt „Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners“. Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungs- und Glaubenssätzen konstruieren unterschiedliche subjektive Perspektiven innerhalb ihrer Erfahrungshorizonte. Nicht selten münden diese dann in subjektiven Wahrheiten. Und das meist mit hohem subjektiven Gewissheitsgrad.

Daher ist es nicht diese vermeintliche Wahrheit, die im Mittelpunkt unseres Umgangs mit den Dingen oder dem Umgang mit unseren Mitmenschen oder dem Umgang mit uns selbst steht. Sondern es ist unsere Haltung zu den Dingen, zu unseren Mitmenschen und zu uns selbst. Entscheidend ist die Haltung, die Grundeinstellung, die ein Mensch zur Welt um ihn herum, zu seinen Mitmenschen und zu sich selbst hat. Es ist seine Haltung, die ihn ausmacht. Die Haltung, die immer wieder selbstreflexiv zu hinterfragen ist.

In der Haltung wird die Gesinnung eines Menschen sichtbar, sie konkretisiert seinen Weltbezug und sein Selbstverständnis.

Ein Beispiel: Zu der Zeit, als Ihr als Fünftklässler ans HAG gekommen seid, durfte ich ein paar Jahre im Auslandsschuldienst in Spanien zu verbringen. Eine deutsch-spanische Begegnungsschule - deutsche und spanische, spanisch-deutsche und deutsch-spanische Kinder waren gemeinsam und bunt gemischt in den Klassen und hatten das gemeinsame Ziel des deutschen Abiturs sowie des spanischen Bachillerato. Parallel zu den ministeriellen Vorgaben der deutschen Kultusministerkonferenz gab es auch Dekrete der spanischen Regierung. So wurde beispielsweise in der Oberstufe das Pflichtfach Geschichte von deutschen Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrern gehalten, während parallel dazu das Fach Historia in spanischer Sprache von ihren spanischen Kolleginnen und Kollegen unterrichtet wurde. Ebenfalls als Pflichtfach. Zwei Fächer mit scheinbar gleichem Fachinhalt, die aber in unterschiedlicher Sprache und vor dem Hintergrund eines unterschiedlichen nationalen Geschichtsverständnisses unterrichtet wurden.

Während der spanische Historia-Lehrer und die deutsche Geschichtslehrerin das Fach aus ihrem kulturellen geprägten Lehrplan heraus unterrichteten, gelang es den Schülerinnen und Schülern aufgrund ihrer offenen Haltung, beides zu verknüpfen. Nicht eins als richtig und das andere als falsch zu bewerten, sondern beides als sich gegenseitig stützend, untermauernd und sich relativierend zu begreifen und aus beidem synoptisch ein eigenes Geschichtsverständnis zu entwickeln.

Das, was Lehrkräfte nicht leisten konnten, haben die Schülerinnen und Schüler mit Leichtigkeit geschafft. Sie haben aus einer kulturellen Diversität eine eigene Haltung zu spanischen und deutschen Unterrichtsfächern entwickelt, zu ihren spanischen und deutschen Lehrerinnen und Lehrern und zu deren kulturellem Hintergrund.

Die menschenfreundliche Haltung dieser Jugendlichen zur kulturellen Verschiedenheit und damit auch zu unserem europäischen Geist hat mich nachhaltig beeindruckt.

Eine positive Haltung ist eine Haltung des Dialogs und der Kompromissfindung.

„Gewalt beginnt, wo das Reden aufhört“. Diesem Zitat der Namensgeberin unserer Schule Hannah Arendt hat sich der Kunstkurs gewidmet und die tollen Exponate dazu können im Eingangsbereich betrachtet werden.

Eine offene und positive Haltung kann nur derjenige besitzen, der sich selbst gehalten fühlt. Ein selbstbewusster Stand und damit ein sicheres Sich-gehalten-fühlen begünstigt eine konstruktive menschenfreundliche Haltung.

Einer Haltung, einer Position, ist stets auch inbegriffen, dass man bereit ist, „Halt“ zu sagen. „Halt“, wenn man merkt, dass sich jemand, dass etwas oder dass gar man selbst in eine Sackgasse geraten ist. Ein „Halt mal“ erfordert immer Mut und Überwindung. Es ist oft leichter sich zu ent-halten, also keine Haltung zu haben und sich einer – vielleicht auch seiner eigenen – Haltung zu entziehen.

Eine Haltung und ein klares unmissverständliches „Halt“ verdient deshalb immer großen Respekt und Anerkennung. Denn ein Bruch mit Dingen ist viel schwieriger als ein bequemes „Weiter-so“.

In Eurer Abizeitung ist aus den Vergleichen der Klassenfotos aus der 5. Klasse und der heutigen eindrücklich zu sehen, dass viele Eurer Weggefährtinnen und Weggefährten diesen Schritt gegangen sind und heute nicht hier zwischen Euch sitzen. Manche haben Halt gemacht, Halt gesagt und einen neuen Weg eingeschlagen. Von einigen weiß ich, dass sich dieser Halt und Richtungswechsel im Nachhinein als sehr positiv für sie herausgestellt hat.

Für Euch ist das Abiturzeugnis leider auch keine Garantie, nicht doch irgendwann einmal zu scheitern. Ein gerader linearer Weg ist nicht die Regel. Vielleicht wird es Prüfungen geben, die ihr nicht besteht, vielleicht werdet ihr erkennen müssen, dass gesetzte Ziele unerreichbar sind und dass sich ersehnte Lebensplanungen nicht verwirklichen lassen können. Das gilt es dann auszuhalten.

Der Rückblick auf bisher Überstandenes,

der Blick auf die großartigen Erlebnisse, die Euch gestärkt haben,

der Blick auf die Menschen, die Euch liebevoll Halt verliehen haben,

auch die Kraft, die Ihr in Euch selbst gefunden habt.

Alles das sind Eure Ressourcen und tragen zu Eurer Haltung bei.   

Ich wünsche Euch Halt in Euren Familien, bei Euren Freunden und Lieben. Ein Netzwerk mit guten Kontakten, die ihr demnächst in Ausbildung, Studium, im Freiwilligendienst und wo auch immer erleben werdet.

Ich wünsche Euch diesen Halt, damit ihr in der Lage seid, klare offene Haltungen und menschenfreundliche Positionen auszubilden. Und ich wünsche Euch, dass ihr den Mut und die Kraft habt, „Halt“ zu sagen, falls das notwendig sein sollte.

Vielen Dank, dass Ihr mir zugehört habt.

Autor: Martin Deckert