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„Wehren statt ducken“ -
Kindheit und Schulzeit Hannah Arendts

Zahlreiche Biographien beschäftigen sich mit Leben und Werk Hannah Arendts, auch mit ihrer Kindheit und Schulzeit.

Für Schüler besonders gut lesbar ist die Biographie von Alois Prinz, „Beruf Philosophin oder Die Liebe zur Welt – Die Lebensgeschichte der Hannah Arendt“. Auch die Bildmonographie von Wolfgang Heuer ist empfehlenswert.

Grundlange für die folgenden Ausführungen ist vor allem die ausführliche Biographie: „Hannah Arendt - Leben, Werk und Zeit“, geschrieben von Elisabeth Young-Bruehl, Frankfurt am Main, 1986.

 

Hannah Arendt wurde am 14.10.1906 als einziges Kind von Paul Arendt und Martha Cohn in Linden bei Hannover geboren.

Der Vater arbeitete als Ingenieur bei einer Elektrizitätsgesellschaft in Hannover, musste aber wegen einer schweren Krankheit seine Arbeit bald aufgeben. 1909 zogen die Arendts deshalb zurück in ihre Heimat, ins ostpreußische Königsberg.

Hannah Arendts Mutter hatte drei Jahre lang in Paris Französisch und Musik studiert und legte viel Wert auf die musikalische und sprachliche Ausbildung ihrer Tochter.

Paul Arendt war nicht nur Ingenieur, sondern auch Amateurgelehrter. Er besaß eine Bibliothek mit griechischen und lateinischen Klassikern, auf die Hannah später mit Begeisterung zurückgriff.

Die Arendts waren Juden, aber nicht religiös. Dennoch schickten sie Hannah mit den Großeltern in die Synagoge und schätzten den Reformrabbiner Hermann Vogelstein, auch als einen Förderer der Sozialdemokratischen Partei.

Hannah besuchte den Kindergarten. Sie durfte keine Kinder zu sich nach Hause einladen, der sich rasch verschlechternde Gesundheitszustand von Paul Arendt ließ das nicht zu.

Martha Arendt wünschte sich ein unbeschwertes Leben für Hannah, aber es war unmöglich, die Krankheit des Vaters vor dem Kind zu verbergen.

1911 wurde er in die psychiatrische Klinik eingeliefert. Anfangs durfte Hannah noch mitgehen, wenn die Mutter ihren Mann in der Klinik besuchte. Aber bald erkannte Paul Arendt seine Tochter nicht mehr und Hannah wurden die Besuche erspart.

Mit dem Großvater väterlicherseits war Hannah viel zusammen, vor allem, als der Vater krank wurde. Der Großvater beeindruckte sie mit seiner besonderen Fähigkeit des Geschichtenerzählens.

1913, im März, starb er, im Oktober ihr Vater. Hannah Arendt wurde nun immer verschlossener.

Eine kleine Ablenkung bestand darin, dass sie seit August 1913 die Grundschule besuchte.

Rabbi Vogelstein gab in dieser Zeit mehrmals in der Woche Religionsunterricht. Dieser Unterricht war die einzige formale Religionsausbildung, die Hannah je erhielt. Im Kindergarten hatte sie pflichtgemäß die christliche Sonntagsschule besucht, sodass sie dem Rabbi zu dessen Überraschung verkündete, Gebete seien an Christus zu richten. Später erklärte sie ihm dann, dass sie nicht mehr an Gott glaube. Vogelstein reagierte auf Hannahs ehrliches Bekenntnis gelassen mit der Frage: „Und wer hat das von dir verlangt?“

Die Arendts wohnten, wie alle jüdischen Geschäftsleute und Akademiker Königsbergs, in einem wohlhabenden Viertel namens Hufen. Die Juden der Arbeiterklasse hingegen lebten zwischen dem Bahnhof und dem Fluss Pregel.

Die Juden der Mittel- und Unterschicht begegneten einander selten. Nur sehr wenige der jüdischen Unterschichtskinder schafften die Aufnahme ins Gymnasium, wo es in jeder Klasse nur drei oder vier Juden gab.

Gebildete Juden wurden Ärzte, Rechtsanwälte, Schullehrer oder Künstler, nahmen aber kaum einmal in der Stadt oder Provinz ein Regierungsamt ein. Professorenstellen an der Universität standen den Juden nicht offen.

Paul und Martha Arendts jüdische Bekannte waren Akademiker. Martha war mit einer Gruppe von Frauen befreundet, die Kindergärten und Grundschulen eröffneten, z.B. auch Frau Stein und Frau Szittnik, die die von Hannah besuchten Schulen leiteten.

In Königsberg gab es literarische Zirkel, Kammermusikgruppen und politische Organisationen, in denen Frauen vorherrschten. Martha Arendt und ihre Freunde waren der Auffassung, dass die Töchter für Berufslaufbahnen erzogen und ausgebildet werden sollten, die ehemals nur den Söhnen offen standen.

Hannah Arendt kam einmal von der Grundschule nach Hause und fragte ihre Mutter, ob es wahr sei, was ein Mitschüler ihr erzählt habe – ihr Großvater habe den Herrn Jesus umgebracht.

1964 sprach die Philosophin über Vorfälle dieser Art und sagte:

 „ …der Antisemitismus ist allen jüdischen Kindern begegnet. Und er hat die Seelen vieler Kinder vergiftet. Der Unterschied bei uns war, dass meine Mutter immer auf dem Standpunkt stand: Man darf sich nicht ducken! Man muss sich wehren! Wenn etwa von meinen Lehrern antisemitische Bemerkungen gemacht wurden – meistens gar nicht mit Bezug auf mich, sondern in Bezug auf andere jüdische Schülerinnen, zum Beispiel ostjüdische Schülerinnen -, dann war ich angewiesen, sofort aufzustehen, die Klasse zu verlassen, nach Hause zu kommen, alles genau zu Protokoll zu geben. Dann schrieb meine Mutter einen ihrer vielen eingeschriebenen Briefe; und die Sache war für mich natürlich völlig erledigt. Ich hatte einen Tag schulfrei, und das war doch ganz schön. Wenn es aber von Kindern kam, habe ich es zu Hause nicht erzählen dürfen. Das galt nicht. Was von Kindern kommt, dagegen wehrt man sich selber. Und so sind diese Sachen für mich nie zum Problem geworden. Es gab Verhaltensmaßregeln, in denen ich sozusagen meine Würde behielt und geschützt war, absolut geschützt, zu Hause.“

Die kämpferische, selbstbewusste Haltung, zu der die Mutter ihre Tochter erzog, hat sich Hannah Arendt ihr Leben lang bewahrt.

Martha führte Buch über Hannahs Entwicklung. Viele der frühen Eintragungen in „Unser Kind“ sind hauptsächlich der körperlichen Entwicklung gewidmet. Aber sie streute auch Sätze über die körperliche und seelische Entwicklung ihrer Tochter ein.

Sie war enttäuscht über die fehlende Musikalität Hannahs und freute sich über ihre intellektuelle Frühreife, insbesondere ihre Liebe zu Worten und Zahlen.

Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs waren die Königsberger voller Angst vor den russischen Soldaten. Martha und Hannah verließen die Stadt. Sie fuhren nach Berlin, zu Marthas Schwester Margarete. Martha meldete Hannah an einer Schule im Stadtteil Charlottenburg an. Aber zur Freude der heimwehkranken Hannah konnten die Arendts schon nach nur zehn Wochen wieder in ihre Heimat zurückkehren.

Hannah Arendt war in den Jahren nach dem Tode ihres Vaters und Großvaters häufig krank. Im Jahr 1915 schrieb Martha in ihr Tagebuch:

„Badet in den großen Ferien kalt u. ist fröhlich, wenngleich sie anfängt in der Schule unruhig zu werden und allerhand Ängste hat. Jedesmal, wenn eine Klassenarbeit geschrieben wird, schlottern ihr die Kniee. Sie schreibt auch die Arbeiten nicht ihren Fähigkeiten u. ihren mündlichen Leistungen entsprechend u. steht darum in diesem Jahr erheblich schlechter als in den vorigen Jahren.“

Hannah Arendts Krankheiten dauerten bis Ende 1916. In diesem Jahr wechselte sie auf das Mädchengymnasium „Königin-Luise-Schule“ in Königsberg. Trotz häufigen Fehlens war sie in den Jahren 1916 und 17 eine der besten Schülerinnen, wie Martha erfreut festhielt.

Martha Arendts Tagebuch endet 1917 mit der Notiz: „Ist schwierig und fängt an undurchsichtig zu werden.“

Hannah Arendt selbst spricht in der autobiographischen Skizze „Die Schatten“ von ihrer vaterlosen, „hilflosen, verratenen Jugend“. Sie fühlte sich verlassen, nicht nur vom Vater, auch von der Mutter, die als Trauernde lange Reisen unternahm und das Kind bei seinen Großmüttern zu Hause ließ.

In den letzten Kriegsjahren vermietete Martha eins ihrer Zimmer, um ihr Einkommen aufzubessern. Die jüdische Studentin Käthe Fischer zog ein. Sie war etwa fünf Jahre älter als die zwölfjährige Hannah. Die Freundschaft mit ihr und die schulischen Herausforderungen, z.B. der Beginn des Griechischunterrichts, trugen dazu bei, Hannah von ihrer „Undurchsichtigkeit“ zu heilen. Auch Martha grübelte weniger über Familienprobleme und beschäftigte sich immer mehr mit der politischen Lage Deutschlands. Ihre Wohnung wurde zum Treffpunkt für Sozialdemokraten.

1920 heiratete Hannahs Mutter Martin Beerwald, einen Eisenwarenhändler. Martha und Hannah zogen zu ihm, nur zwei Straßen weiter. Zu Beerwald hatte Hannah Arendt nur eine lose Beziehung. Sie war lebhaft und oft widerspenstig. Auch mit seinen zwei Töchtern konnte sie nur wenig anfangen, sie war zu eigenwillig und unkonventionell für die Beerwalds.

Hannah fand ihre Freunde an anderen Orten. Sie wurde in den „Grumacher Kreis“ aufgenommen, der von dem Studenten Ernst Grumach ins Leben gerufen wurde und in dem die Schülerinnen und Schüler der höheren Klassen zusammen über Literatur und Philosophie reden und griechische Texte lesen konnten.

Grumach erzählte begeistert von seiner Freundin Anne Mendelssohn. Hannah beschloss, sie in ihrer Heimatstadt Stolp westlich von Königsberg zu besuchen. Aber die Beerwalds verboten ihr die Reise, weil die Familie einen schlechten Ruf hatte, da der Vater im Gefängnis war.

Dies aber interessierte Hannah nicht. Sie riss nachts heimlich aus, besuchte Anne und begann eine Freundschaft, die erst mit dem Tode Hannah Arendts endete.

Martin Beerwald konnte Martha und ihrer Tochter ein sicheres Heim bieten. Sein Eisenhandelsunternehmen florierte nach dem Krieg und brach auch während der schlimmsten Inflationsjahre Deutschlands, 1922 und 1923, nicht zusammen. Hannah erinnerte sich an zahlreiche Hilfsaktionen für Arme und die großherzige Freigebigkeit ihrer Mutter.

Hannah Arendt las schon als junges Mädchen viel und gern, sie interessierte sich für Philosophie und Dichtung, insbesondere für Goethe und für die Romantik. Sie setzte sich auch mit modernen Romanen, die von den Schulbehörden als für junge Leute ungeeignet angesehen wurden, auseinander, z.B. mit Werken Thomas Manns.

Obwohl ihr das Lernen leichtfiel, konnte sie sich mit dem Schulalltag - einer Sechstagewoche mit vielen Formalitäten und Strenge – nie anfreunden. Martha Beerwald musste immer wieder zwischen Hannah und der Schule vermitteln.

Kurz vor dem Abitur musste Hannah wegen Differenzen mit einem Lehrer die Schule verlassen. Ein junger Pädagoge, der für seine Rücksichtslosigkeit bekannt war, beleidigte Hannah mit einer Bemerkung, über deren Inhalt sie niemals öffentlich sprach.

Das Mädchen fühlte sich beleidigt und forderte ihre Mitschüler auf, den Unterricht dieses Lehrers zu boykottieren. Martha Beerwalds Eingreifen konnte Hannahs Schulverweis nicht verhindern.

Die Mutter sorgte dafür, dass Hannah einige Semester an der Universität Berlin studieren konnte. Dort beschäftigte sich Hannah mit Griechisch und Latein und besuchte Vorlesungen über christliche Theologie bei dem Existenzialisten Guardini.

Nach ihrer Rückkehr nach Königsberg legte sie 1924 als externe Schülerin das Abitur ab. Vor der Prüfung hatte sie große Angst – sie gestand ihrer Freundin Anne Mendelssohn, dass sie eine der angstvollsten Erfahrungen ihres Lebens gewesen sei. Hannah schaffte es jedoch, Selbstsicherheit vorzutäuschen. Sie bestand ihr Abitur mit glänzendem Erfolg, ihrer Klasse um ein Jahr voraus.

Mit dem Abitur ging für Hannah Arendt ein Lebensabschnitt zu Ende. Sie hatte sich angewöhnt, ihr Leben aufzuspalten in „Hier und Jetzt und Dann und Dort“. Kindheit und Schulzeit hatten etwas Vorläufiges; Hannah sehnte sich nach einem anderen, eigentlichen Leben. Sie verließ Königsberg und ging noch im selben Jahr nach Marburg, um bei Martin Heidegger Philosophie und bei Rudolf Bultmann Theologie zu studieren.

Bereits in Hannah Arendts Kindheit und Schulzeit werden wesentliche Facetten ihrer Persönlichkeit deutlich. Bei aller Zurückgezogenheit waren Freundschaften und Gespräche immer besonders wichtig und wertvoll für sie. Schon als junger Mensch war sie aufgeschlossen, wissensdurstig und dialogbereit.

Nicht zuletzt durch die Erziehung der Mutter entwickelte sie ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden und stellte sich gegen den Zeitgeist.

Hier wurzeln ihre späteren politischen und philosophischen Reflexionen.

Autor: Katja Hennig