Zum Inhalt springen

Abiturrede 2017 - 1. G8-Abitur
Herr Thomas Jung

Liebe Schülerinnen, liebe Schüler des 1. G8-Jahrgangs am HAG, herzlichen Glückwunsch zur bestandenen Abiturprüfung,
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, auch Ihnen, auch Euch, meinen herzlichen Glückwunsch zu bereits den zweiten in diesem Schuljahr von Ihnen, von Euch, durchgeführten Abiturprüfungen und herzlichen Glückwunsch zum erfolgreichen Abschluss des 1. G8-GTG-Durchgangs am Hannah-Arendt-Gymnasium, und ganz besonders gratuliere ich Ihnen, liebe Eltern zur bestandenen Abiturprüfung ihrer Kinder.

Während einer Führung durch eine psychiatrische Anstalt fragt ein neugieriger Besucher den Chefarzt, welche Möglichkeiten er denn hat, um herauszufinden, ob ein Patient zwangsweise eingeliefert werden muss oder nicht.
“Das ist ganz einfach”, sagt der Chefarzt. “Wir füllen eine Badewanne mit Wasser. Dann geben wir dem Patienten einen Löffel, eine Tasse und einen Eimer und sagen ihm, er solle die Badewanne entleeren.”
“Aha, ich verstehe”, sagt der Besucher.
“Eine normale Person nimmt dann natürlich den Eimer, da dieser größer ist und es damit schneller geht, während ein Idiot den Löffel oder die Tasse benutzt.”
“Falsch!” antwortet der Chefarzt.
“Eine normale Person zieht den Stöpsel aus der Badewanne.
Möchten Sie ein Zimmer im Erdgeschoss oder eines mit Balkon und Aussicht?"

Was hättest Du, was hätten Sie geantwortet?

Dieser Dialog hat zwar nicht unmittelbar mit dem Thema "Bildung", mit dem Thema “Abitur” zu tun, aber mittelbar doch. Dieser Dialog bringt sehr anschaulich auf den Punkt, wie schnell man in der subjektiven Wahrnehmung einer Situation auf der falschen Spur sein kann, weil man ein bestimmtes Bild vor Augen hat. Ich hoffe sehr, dass wir Lehrerinnen und Lehrer erfolgreich versucht haben, Euch zum Blick über den Tellerrand zu erziehen und zu lehren und ich hoffe, wir haben Euch während Eurer 8 Schuljahre am HAGH nicht nur fertige Lösungen vorgegeben, sondern Euch motiviert, eigenständig, kreativ und mutig auch unkonventionelle Problemlösungen zu entwickeln.

Es hätten ja wohl alle den Stöpsel gezogen, oder?

Was Bildung eigentlich sein soll, wie viel wir davon brauchen, wie Bildungseinrichtungen und das Bildungssystem am besten gestaltet werden, darüber herrschte noch nie Einigkeit.
Die bundesdeutschen Bildungsgänge, die Schulreformen in Deutschland werden durch die Kultusministerkonferenz (KMK) festgelegt und dann förderativ in 16 Bundesländern umgesetzt.
Das Abitur nach der 12. Jahrgangsstufe war das Ergebnis einer Schulreform an den Gymnasien in Deutschland. Die Verkürzung der Schulzeit bis zum Abitur von dreizehn auf zwölf Jahre war zwischen 2012 und 2015 in fast allen Bundesländern eingeführt. Lediglich in Rheinland-Pfalz blieb es bei einem Modellversuch an 19 Ganztagsschulen neben dem regulären G9-Abitur nach 8 ¾ Jahren.

Meines Erachtens hat sich das Experiment, das Wagnis – der Modellversuch G8 am HAGH gelohnt,
Ihr, 35 Abiturienntinnen und 42 Abiturienten, habt die Abiturprüfung bestanden, nach acht kompletten Schuljahren - von August 2009 bis Juni 2017 am HAG. So bekommt Ihr heute eure Abiturzeugnisse, so wie fast alle eure Altersgenossen in den anderen 15 Bundesländern derzeit nach 8 Schuljahren am Gymnasium. Zu diesem Sonderstatus in RP meinen herzlichen Glückwunsch und meine Anerkennung.

Meines Erachtens hat sich der Modellversuch G8 gelohnt.
Ohne offenbar direkt sichtbare negative Folgen können Eltern also ihre Kinder in RLP, auf jeden Fall zumindest hier in Haßloch, auf ein G8-Ganztagsgymnasium schicken.
Ich gratuliere Ihnen, liebe Eltern, ebenfalls ganz herzlich und ganz ernst gemeint zur bestandenen Abiturprüfung ihrer Kinder und bedanke mich für das Vertrauen, das Sie  in die Schulleitung und in das Kollegium dieser Schule gesetzt haben, um auf dieser Grundlage, den Modellversuch oder das Experiment G8 gelingen zu lassen.

Das Wagnis hat sich gelohnt,
Danke auch Ihnen, auch Euch, liebe Kolleginnen und Kollegen, und besonders Dir, Eduard Seger, unserem langjährigen SL, der mit Karin Reinhardt, der langjährigen 2. Stellverteterin am HAGH, und mir den Modellversuch hier eingeführt hat; Euch beiden Pensionären sei an dieser Stelle nach 10 anstrengenden G8-Jahren ganz herzlich gedankt.

Warum ist dieses Experiment G8 aus meiner Sicht erfolgreich?
Ihr Schülerinnen und Schüler und wir Kolleginnen und Kollegen haben uns auf das viele Neue, mit dem G8GTG verbunden ist, eingelassen,
wir haben die Vorgaben, die das Ministerium machte, so weiterentwickelt und ausgebaut, wie es uns angemessen, wie es uns pädagogisch sinnvoll und machbar erschien.
Im Jahre 2008, als wir uns hier auf den Weg machten, gab es weltpolitisch auch Aufbruchstimmung:
Obama wird der erste afroamerikanische Präsident der USA
Russland soll zur Gruppe der G7 Staaten dazukommen => G8 gilt als Inbegriff von Zukunft, von sicherer, friedlicher, wirtschaftlich erfolgreicher Zukunft, als Garant für eine bessere Welt.
Leider – das müssen wir heute sagen – ist das so nicht in Erfüllung gegangen; Krieg, Terror, die Krim-Annektion, der Rechtspopulismus und die Flüchtlingsproblematik haben vieles aus den Fugen gebracht. Derzeit ist G7 eher G6 + 1.
Der Modellversuch G8 am HAGH hat unsere Schule aufgerüttelt, unsere Schule in Bewegung gebracht - getreu dem chinesische Sprichwort:
"Wenn der Wind des Wandels weht, bauen die einen Mauern, die anderen Windmühlen".
„Immer ist alles im Wandel“ sagt man, aber dieser Wandel war, dieser Wandel für das HAGH ist gewaltig:
•    Wie werden die Lerninhalte in allen Fächern von 6 auf 5 Jahre reduziert und
      verteilt?
•    Wo wird gekürzt?
•    Wie geht das - Schule ohne Hausaufgaben?
•    Wie geht das  - Schule bis 16:00 Uhr?
•    Lernen die Kinder nur noch in der Schule?
•    Wo / wie bekommen unsere Schülerinen und Schüler Mittagessen?
•    Bekommen wir auch Räume, die als Schüler -arbeitsräume und als
     Lehrerarbeitsräume nutzbar sind?
•    Was kostet das? Ist das finanzierbar?
•    Wie motiviert man ein Kollegium dafür?

Wir haben mit Euch - ich gebe es zu - in vielen Bereichen zu vielen Themen experimentiert
z.B.:
•    wie geht denn so eine Lernzeit? - wie stellen wir den Lernfortschritt bei den
     Schülerinnen und Schülern fest, wenn es keine "HÜ's" mehr gibt?
•    wie können wir die Eltern bei der Erziehungsaufgabe mit ins Boot holen, wenn ihr
      von 8 Uhr bis 16 Uhr nachmittags bei uns und mit uns zusammen seid?
•    Wie können wir die Eltern auf dem neusten Lern-und Entwicklungsstand halten?
     Das Lernjournal wurde geboren, jetzt bereits in der 8. Neuauflage.
•    Kommt unsere Arbeit mit Schülerinnen und Schülern und deren Eltern so gut an,
     dass es auch im 2. / im 3. Jahr noch genügend Anmeldungen zu unserer Schule
     gibt, wo bei anderen Gymnasien die Schülerzahlen zurückgingen?
•    Hält unser Schulträger, was er versprochen hat, was die damalige Landrätin Frau
     Roehl versprochen hat?
Das ist eindeutig mit “Ja” zu beantworten, zugegeben oftmals nach harten und langen Verhandlungen. Heute haben wir hier in der Umgebung sicherlich die neuste, die modernste, ja die schönste Schule mit eigener Mensa, mit Café und mit vielen Arbeits- und Differenzierungsräumen für Schülerinen und Schüler und Lehrerinnen und Lehrer, aber Herr Landrat Ihlenfeld leider immer noch - bis gestern - ohne das versprochene Sportspielfeld.
•    Aber wie ist es im Unterricht, wie ist es in den 42 Stunden pro Woche, die Ihr in den Jahrgängen von 5 bis 9 mit uns zusammen verbracht habt? War das so wie Ihr, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, wie Sie liebe Eltern, wie wir das Kollegium es wollten, oder ist vieles nicht in Ordnung gewesen?
So viele pädagogische und organisatorische Besprechungen, Konferenzen wie in den letzten 8 Jahren habe ich in den fast 20 Jahren als Lehrer an einem G9-Gymnasium vorher nicht erlebt.
Zusätzlich zu den alt bekannten Informationsabenden zur 2. FS und zur MSS in Jg5 und Jg.9 gab es noch Informationsveranstaltungen hier in der Aula zu den Neigungsgruppen, später zu den AG’s und Infos zum WPF, zur Mensanutzung und zur Nutzung der Spinde.
Mit den Eltern dieses 1. Jahrgangs haben wir – wie auch 1991 – 2000 beim Aufbau dieses damaligen G9-Gymnasiums - einen gemeinsamen Arbeitskreis installiert; zuerst ging es nur um das Mittagessen im Planet, dann um die Lernzeiten, manche nannten sie Lärmzeiten, es wurde diskutiert, ausprobiert und dann festgelegt. Ein großer Dank sei an dieser Stelle an die Klassenleitungen und die mitentwickelnden, engagierten Eltern ausgesprochen, die sich heute sicher mit uns an diese vielen Diskussionsabende lebhaft erinnern, herzlichen Dank für die viele Zeit und ihre reichhaltigen Ideen.
Beispielsweise das Thema “Unterrichtszeit am Nachmittag”, Ihr erinnert Euch - sowohl im Info-Grundkurs als auch im meinem Mathe-LK war dies scheinbar für Euch ein großes wichtiges Problem, wann endet denn wohl der Unterricht heute und in diesem Halbjahr und nach wie vielen Pausen?

Als Besonderheiten während Eurer Schulzeit nanntet ihr:
Stress im letzten, im 12. Schuljahr,
Klassen- und Kursfahrten, häufigen Lehrerwechsel und viele Freistunden in MSS 10 – diesen bezeichnetet Ihr als einen besonders lockeren Jahrgang  
Ich möchte Euch aber auch an folgende Ereignisse erinnern:
•    Unterricht in Containern und dann nach der Fertigstellung des Neubaus den
     Umzug in die nach Hannah Arendt bezeichneten Häusern Haus Heidelberg, Haus
     Berlin, Haus Freiburg und Haus Marburg  - auch so eine Idee, die wir umgesetzt
     haben,
•    Feier zum 25. Jubiläum des HAGH. Ich erinnere an die „2“ bei Herrn Brechs 
     HAGH25-Film auf dem Sportplatz,
•    Die Verabschiedung des Schulleiters, die Verabschiedung von Herrn Seger, die
     Zirkusveranstaltung, bei der Franziska und Nathalie 3 Stunden durch’s Programm
     geführt haben,
•    Die Einführung unseres neuen Schulleiters, Herrn Strempel – wiedermal mit DS-
     Aufführungen
•    In den Fächern D, M, E und F habt ihr als 2. Jahrgang Aufgaben mit zentralen
     Anteilen bearbeitet, ein Novum in RP in diesem Schuljahr
•    Im Theaterstück "King of Job", bei dem ich selbst mitspielen durfte, habe ich Eure
     Vielseitigkeit, Eure Flexibilität besonders kennengelernt  - bei dieser gemeinsamen
     DS-Arbeit mit Euch auf der Bühne, aber auch im Off, auch bei der Technik mit Niels
     und Nico. Das war, das ist auch ein Ergebnis, von langem gemeinsamen Lernen und
    Leben an einem Ganztagsgymnasium.

Schule mit Euch, nicht nur mit meinem Stammkurs, war für mich etwas Neues, etwas was ich nicht missen möchte. Durch die viele Zeit, die ich mit Euch verbracht habe – (einige von Euch hatten mich 7 von 8 Jahren als Mathe bzw. Infolehrer), in dieser langen Zeit konnte sich das Lehrer-Schülerverhältnis auf einer viel persönlicheren Ebene entwickeln.

Für Euch wünsche ich mir, dass ihr uns, unsere Schule, zukünftig auch in sehr guter Erinnerung behaltet und Ihr in Eurem späteren Beruf auch einmal solch starke umwälzenden Veränderungen so positiv erleben werdet wie ich persönlich.

Für uns, die hier bleiben (U-Ende: 16:08 Uhr wg. der Bahn) heißt es nun nach dem 1. G8-Abitur sich zu erinnern, nachzudenken und zu prüfen, was gut gelaufen ist, was wir verändern und verbessern sollten.
Eine erste Evaluation hat begonnen.
Nicht alles Neue ist schlecht, aber Bewährtes ist nicht per se gut.

Und ihr, die ihr dieses Experiment, dieses Wagnis, gut überstanden, ja bestanden habt, was nehmt ihr mit?

Drei Ratschläge möchte ich Euch zum Schluss meiner Rede, Euch zum Schluss meiner Begleitung über 8 Schuljahre mit auf den Weg geben:

1.    Habt Mut und Zuversicht, Neues anzugehen,
Lasst Euch nicht von unreflektierten Äußerungen und vorschnellen Urteilen zu einem Thema / zu einer Antwort (Stichwort: Badewanne) beeinflussen – Hütet Euch vor Fake news.
2.    Vertraut auf das, was Ihr wisst und könnt, aber hört nie auf, Lernende zu sein.
3.    Seid immer mit ganzem Herzen bei Eurer Arbeit, aber gönnt Euch auch Muße, um die vielen anderen schönen und interessanten Aspekte der Welt und des Lebens zu genießen.
Und eins liegt mir noch am Herzen:
Bitte, lieber 1. G8-Jahrgang geht am 24.September 2017 zur Bundestagswahl, wenn ihr denn dürft.
Zeigt Euer Interesse an der Demokratie in unserem Land, an einer friedlichen Zukunft und einem gutem internationalen Miteinander.
Macht Euch im Sinne von Hannah Arendt auf den Weg "Ohne Geländer zu gehen" und habt Mut, Neues zu versuchen, Neues zu wagen!

Autor: Thomas Jung