Abiturrede 2021 -
Frau Andrea Hager-Wernet
Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, liebe stolze Eltern, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe übrige Anwesenden,
als mich die Mail erreichte, ich solle die diesjährige Abirede halten, bin ich zunächst mal ziemlich erschrocken. Gerade hatte ich die letzten mündlichen Prüfungen fertig gestellt und dachte, das Thema Abitur sei nun bald erledigt, und jetzt das!
Aber Kneifen gilt in einem solchen Fall nicht und so begann ich mir Gedanken darüber zu machen, was ich Euch mit auf den Weg geben soll.
Zuerst war die Versuchung groß, passend zu Eurem Abimotto die ganze Rede am Thema „Zirkus“ aufzuhängen. Das hätte zu so mancher Unterrichtsstunde prima gepasst. Und die Schülerinnen und Schüler, aber auch die Lehrerinnen und Lehrer hätte man wunderbar in Schubladen aus der Welt der Manege stecken können.
Ich denke da an die Clowns, die erst zufrieden sind, wenn alles lacht, an die wilden Raubtiere und ihre Dompteure, an die Jongleure, die manchmal eindeutig zu viele Bälle im Spiel hatten, und die mutigen Trapezkünstler, die ohne Netz und doppelten Boden - das heißt oft genug ohne jegliche Vorbereitung- in die Kursarbeit gegangen sind. Doch vermutlich habt Ihr in Eurer Abizeitung schon alle möglichen Anspielungen zum Thema Zirkus gemacht und das Motto wird auch vermutlich in einigen Redebeiträgen auftauchen, so dass ich an dieser Stelle nun schon wieder damit aufhöre.
Einen Teil von Euch kenne ich ziemlich lange, nämlich seit der sechsten Klasse im Schuljahr 2014/15. Ich muss leider zugeben, dass ich mich an diese Zeit gar nicht so gerne zurück erinnere. Der evangelische Religionsunterricht mit 28 Kindern aus zwei verschiedenen Klassen, der 6 b und c, hat mich nämlich etliche Nerven gekostet. Eigentlich war zwar nur eine Handvoll sehr unruhiger und aufmüpfiger Kinder in der Gruppe, aber die haben genügt. Alles Mögliche habe ich damals probiert: Fragebogen über die Lage in der Klasse, Elterngespräche und Einzelgespräche mit den Übeltätern. Sogar einen Vertrag über besseres Verhalten hatte ich mit den Bösewichten geschlossen. Darin hieß es unter anderem: „Ich werde mich melden, wenn ich etwas zum Unterrichtsthema sagen möchte. Mit allen anderen Bemerkungen, Fragen und Witzen werde ich bis zur Pause warten.“ Man kann erahnen, wie turbulent es in manchen Stunden zugegangen ist. Mein Problem war, dass ich selbst den Spezialisten nie so richtig böse sein konnte und oft über sie lachen musste, z. B. über die Erklärung, warum ein Kind sich daneben benommen hatte. Diese lautete nämlich: „Ach Frau Hager-Wernet, eigentlich wollte ich das nicht, aber mein Nachbar hat mich halt produziert.“
Inzwischen ist viel passiert und aus denen, die damals produziert wurden oder andere produziert haben, sind – zumindest meistens - vernünftige Erwachsene geworden. Das ist übrigens einer der Aspekte, die mir am besten an meinem Beruf gefallen: Dass man miterleben darf, wie aus hibbeligen, wilden, manchmal rotzfrechen, manchmal extrem schüchternen Kindern, engagierte, selbstbewusste und ernsthafte junge Leute werden.
Falls Sie, liebe Eltern, den letzten Teil noch nicht so ganz unterschreiben können, weil Sie den Eindruck haben, dass es mit der Ernsthaftigkeit Ihrer Kinder noch nicht so weit her ist, will ich Ihnen Mut machen: Ich bin mir sicher, dass die Zeit des Lernens noch nicht vorbei ist. Von einigen meiner ehemaligen Schüler habe ich den weiteren Lebensweg aus der Ferne ein wenig mitverfolgt und immer wieder erfreuliche Überraschungen erlebt. Ehemalige Schulhofrabauken haben sich zu höflichen und fleißigen Auszubildenden oder Studierenden gewandelt, sind Hebammen, Lehrer, Psychologen und Ärztinnen geworden. Manchmal geschah dies nicht auf dem geradesten Weg und manchmal dauerte es sehr lange bis zum ersehnten Abschluss. Oft erwies sich eine Ausbildung als der bessere Weg. Aber es haben auch junge Leute ein Studium abgeschlossen und sogar promoviert, von denen bezweifelt wurde, dass sie je das Abitur schaffen.
Und wenn ich Euch jetzt so vor mir sehe, dann traue ich Euch noch alles Mögliche zu und dieses Mal meine ich es, anders als in der sechsten Klasse, nur im positiven Sinne.
Ich möchte Euch – und auch Eure Eltern – dazu ermutigen, Euch und Euren Fähigkeiten zu vertrauen. Dass Ihr einen langen Atem habt, dass Ihr Euch auch durch Schwierigkeiten und Rückschläge nicht beirren lasst, habt Ihr schon bewiesen. Schließlich habt Ihr es schon mal so weit gebracht, dass Ihr jetzt hier steht und bald Euer Abiturzeugnis in den Händen halten werdet.
Seit dem 13. März 2020 war besonders viel Ausdauer notwendig, denn ab diesem Zeitpunkt hat Euch die Coronapandemie einige Pläne verhagelt. Das fing damit an, dass von einem Tag auf den anderen nur noch Fernunterricht möglich war und – vermutlich viel schlimmer für Euch - dass die Kursfahrten ausfallen mussten, was viele zunächst gar nicht glauben wollten. Ich erinnere mich an den durchaus logisch erscheinenden Einwand: „Aber Malta ist doch eine Insel!“. Seitdem musste noch viel mehr ausfallen: Keine AGs mehr, keine Theater- und Tanzaufführungen, keine Konzerte, keine Abipartys, kein Abistreich und leider auch kein Abiball.
Nicht mal zusammen hocken, geschweige denn essen und trinken durftet Ihr.
Stattdessen ständig Emails von Lehrerinnen und Lehrern, moodle-Aufgaben, für die immer zu wenig Zeit war, und unzählige Jitsi- und BBB-Konferenzen, später dann Unterricht in halben Klassen, oft mit Zittern – wegen der vielen Lüfterei – und mit Masken.
Aber immerhin gibt es heute einen offiziellen und feierlichen Abschluss Eurer Schulzeit, an dem auch Eltern und Lehrer teilnehmen dürfen.
Und Ihr habt gerade im letzten Jahr auch manches gelernt. Ich denke, dass vielen von Euch in der Coronazeit etwas klar geworden ist, was den meisten jungen Leuten sonst erst im Lauf des Studiums oder der Ausbildung in den Sinn kommt: Jede und jeder von Euch ist zu einem großen Teil selbst für seinen Lernfortschritt verantwortlich.
Mir ist das vor allem bei dem BioLk, den ich seit der zehnten Klasse hatte, dem Kurs BIO1 aufgefallen. Ganz ehrlich, in 10 und 11 habe ich über Euch öfter mal geschimpft und gestöhnt. Eure Arbeitsbereitschaft hat mich nicht vom Hocker gerissen, dafür war die Schwätzbereitschaft umso größer, vor allem in den späten Nachmittagsstunden.
Aber im letzten Jahr seid Ihr viel selbstständiger im Lernen und Arbeiten geworden. Das hat man auch an den Ergebnissen der Bio-Abiturprüfung gemerkt, die meistens richtig gut ausgefallen sind. Auch der Leistungskurs 2, den ich erst in 12 übernommen habe, hat übrigens ein prima Abitur hingelegt und die mündlichen Prüfungen im Bio-Grundkurs waren trotz der erschwerten Bedingungen sehr erfreulich. Das klingt jetzt alles recht positiv. Es soll aber nicht verschwiegen werden, dass es im Fernunterricht auch große Hürden gab. Bei einigen hing es zumindest zu Beginn an der Technik, z. B. am miesen oder ganz fehlenden W-Lan zu Hause. Bei anderen war es eher der innere Schweinehund, der einem konzentrierten Arbeiten im Wege stand, wenn z. B. schon alleine das Aufstehen nach einer verzockten Nacht ziemlich schwer fiel. Und viele litten sehr unter den mangelnden Kontakten und an der unsicheren Situation im Ganzen. Zu den üblichen schulischen Ängsten vor schlechten Noten und dem Versagen in Prüfungssituationen sind im letzten Jahr andere Sorgen hinzugekommen, ich denke an die Furcht vor Ansteckung und die Angst um Angehörige. Einige von Euch haben schmerzlich erfahren, dass sich die Prioritäten verschieben können, dass manchmal gute Noten zur Nebensache werden – angesichts anderer Sorgen und Kümmernisse. Doch habt Ihr es am Ende (fast) alle geschafft durchaus gereift durch diese wirklich nicht einfachen Zeiten zu kommen.
Und im Nachhinein werdet Ihr vielleicht zur Erkenntnis kommen, dass man aus solch schwierigen Zeiten sogar gestärkt herauskommen kann. Auch wenn Ihr vielleicht nicht immer die brillanten Ergebnisse einfahren konntet, von denen Ihr geträumt habt, wisst Ihr nun, dass durch manches dunkle Tal doch ein Weg führt. Hoffentlich könnt Ihr aus dieser Erfahrung ein wenig Zuversicht ziehen, wenn es in Eurem weiteren Leben mal stürmisch oder sogar düster wird. Vermutlich alle wissen nach dieser Zeit um den Wert der Unterstützung von Freunden und Familie. Das gilt auch und vielleicht besonders für diejenigen, die es in diesem Jahr nicht geschafft haben die erforderlichen Punkte zusammen zu kratzen. Ich bin mir sicher, dass auch sie ihren Weg machen werden, entweder nach einem erneuten Anlauf oder aber nach einer Umplanung in Richtung einer Ausbildung. Ich komme mir heute ein bisschen vor wie eine Oma, die ständig etwas aus ihrer Vergangenheit erzählt, aber ich muss hier einflechten, dass ich schon einige Male erlebt habe, dass junge Leute durchs Abitur gerauscht sind und dann nach einer Ausbildung ihren Traumberuf gefunden haben.
Schön wäre es, wenn Ihr insgesamt einen anderen Zugang zum Thema „Lernen“ bekommen hättet. Ich wünsche mir, dass Ihr begriffen habt, dass auch beim Lernen das Prinzip der Nachhaltigkeit gelten sollte, genauso wie beim Umgang mit Ressourcen und mit der Umwelt. So ist auch in Bezug auf das Lernen eine Wegwerfmentalität ziemlich dumm. Wenn man etwas nur lernt, um es in der nächsten Klausur oder Prüfung abzuliefern und dann zu vergessen, kostet das bloß unnötige Energie. Ich bin der Meinung, dass es kein wirklich unnützes Wissen gibt, dass man nur manchmal nicht immer gleich den Zusammenhang erfasst, in dem es nützlich sein könnte. Ich hoffe sehr, dass es uns zumindest in Ansätzen gelungen ist, Euch die Zusammenhänge, in die das Schulwissen eingebettet ist, aufzuzeigen: Ich nenne nur zwei Beispiele: Ohne mathematische und naturwissenschaftliche Grundlagen können wir weder den Verlauf einer Pandemie noch die Ursachen und Auswirkungen des Klimawandels begreifen. Nur das Wissen um all die Abgründe in der Geschichte der Menschheit kann uns die Einsicht und den Mut geben uns Autokraten jeglicher Couleur in den Weg zu stellen.
Am Ende will ich Euch noch zwei Texte mitgeben. Im ersten geht es um das Abschiednehmen, im zweiten um den Neuanfang:
Einen Weg zu gehen, heißt wegzugehen.
Wer neue Wege gehen will, muss bereit sein, die alten zu verlassen.
Wenn sich keine neuen Wege unter unseren Schuhsohlen auftun,
kann es daran liegen, dass wir nicht loslassen können.
Was wir hinter uns lassen, macht uns frei nach vorne zu gehen.
Ich wünsche Euch, dass Ihr es schafft, all das, was mühselig, anstrengend und frustrierend in Eurer Schulzeit war, hinter Euch zu lassen, aber auch, dass Ihr manches Vertraute loslassen könnt, um in Zukunft neue Wege zu gehen.
Für den Aspekt des Neuanfangs habe ich ein Zitat von Hannah Arendt, gewählt. Ihrer Ansicht nach sind die Neuanfänge das Entscheidende im Leben. Sie schöpft Hoffnung für die Welt daraus, dass immer wieder neue Generationen mit neuer Freiheit zum Handeln geboren werden. In ihren Denktagebüchern hat sie es folgendermaßen formuliert:
Im Geborensein etabliert sich das Menschliche als ein irdisches Reich, auf das hin sich ein Jeder bezieht, in dem er seinen Platz sucht und findet, ohne jeden Gedanken daran, dass er selbst eines Tages wieder weggeht. Hier ist seine Verantwortung, Chance etc.
Angesichts der vielen Herausforderungen der Zukunft wünschen wir, die ganze Schulgemeinschaft, Euch genau das und wir erwarten es auch von Euch, da Ihr ja die neue Generation seid: Dass Ihr Euren Platz in der Welt sucht und findet und dass Ihr mit Verantwortung die Welt gestaltet.