Abiturrede 2006 - Frau Brigitte Stuflesser
Liebe Abiturientinnen und Abiturienten,
verehrte Eltern,
liebes Kollegium,
sehr geehrte Gäste,
liebe Schülerinnen und Schüler!
Am Nachmittag des 8. März 1961 saß ich als Abiturientin zwischen meinen Klassenkameradinnen in meiner/unserer eigenen Abifeier und habe, so wie Sie jetzt, auf mein "Zeugnis der Reife" gewartet, wie es damals noch hieß. Oh je, werden Sie denken. Jetzt erzählt sie uns aus ihrer Kindheit - da kann das mit unseren Zeugnissen ja noch dauern. Befürchten Sie nichts, ich habe natürlich noch einmal Tucholskys "Ratschläge für einen schlechten Redner" nachgelesen und werde es nicht so machen wie jener dort zitierte Chinese, der sein Publikum damit erfreute, dass er mal eben die 3000 jährige Geschichte seiner Heimat aufblätterte. Ich werde Sie, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, auch nicht dafür missbrauchen, meinen eigenen Abschied von der Schule zu begehen und etwa eine Analyse des rheinland-pfälzischen oder gar deutschen Bildungssystems vorzunehmen. Dieses wird Sie frühestens dann wieder interessieren, wenn Ihre eigenen Kinder in die Schule kommen oder wenn Sie selber Lehrer werden sollten. Auch werde ich nichts zu den brisanten Themen Ihres Jahrganges sagen (z.B. Facharbeit oder rauchfreie Schule) - wir wollen uns die schöne Stunde nicht verderben und lieber positiv nach vorne als mit Bitterkeit zurück schauen. Selbst in meiner Vaterstadt ist am Aschermittwoch alles vorbei, weshalb dies natürlich auch keine Büttenrede wird - ein wenig Heiterkeit freilich nicht ausgeschlossen. Und, worauf man im Kontext von "Büttenrede" vielleicht hinweisen sollte, ich habe meinen Text auch nicht dem Internet entnommen, sondern selbst gebastelt. Denn als Sie, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, mich freundlicher- und ehrenvollerweise darum gebeten haben, Ihnen Ihre Abirede zu halten, wollten Sie ja ganz gewiss etwas Persönliches von mir hören.
Ich kehre zurück zum 8. März 1961. Was in den Naturwissenschaften das Experiment ist, die bevorzugte Methode nämlich, zu begründeten Ergebnissen zu gelangen, ist in den Geisteswissenschaften der Vergleich. Ich werde den Focus auf einige wenige Aspekte jener Abiturfeier anno 1961 richten, und Sie werden, denke ich, selbst imstande sein, die entsprechenden Vergleiche zu heute anzustellen, Parallelen zu ziehen oder Unterschiede zu erkennen. Wenn uns dies gemeinsam gelingen würde, so hätten wir davon den Erkenntnisgewinn, die eigene Situation besser einschätzen, eigenes Verhalten schärfer beurteilen und davon ausgehend Zukunft präziser gestalten zu können. Bündeln möchte ich dies alles unter der Fragestellung: Was bleibt? Was zählt? Was ist wichtig?
Wir saßen in einer schäbigen und auch kaum dekorierten Turnhalle an jenem 8. März, eine Aula war kriegsbedingt nicht mehr vorhanden, und der Nachmittagstermin resultierte daraus, dass auch wir diese Turnhalle mit einer anderen Schule teilten, die auf ihrem Vormittagsunterricht bestanden hatte. Wenn meine Erinnerung nicht trügt, so haben zumindest wir Schüler unter diesen Bedingungen nicht gelitten, und das bescheidene Ambiente hat der Qualität unsrer Abifeier keinen Abbruch getan. Ich will das Thema "Eltern" nur kurz streifen, weil ich heute vor allem ja Sie, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, im Blick habe. Die überwältigende Mehrzahl unserer Eltern war zum ersten und einzigen Mal unseretwegen in der Schule, eben aus Anlass der Abifeier, abgesehen sicher von dem einen oder anderen Sprechstundentermin. Es gab noch keine Elternabende und keine Elternbeiräte. Eltern machten ihren Job der Erziehung, die Schule kümmerte sich um Wissenvermittlung, und unter dem Stichwort "Bildung" gab es gewiss Schnittmengen, etwa in Hausmusik, häuslicher Lektüre oder Gesprächen, aber auch dies, ohne einander die Qualifikation abzusprechen oder zu misstrauen. Etwas unglücklich aus unserer, der Abiturientinnen, Sicht war die Tatsache, dass gleichzeitig mit uns unser Schulleiter in den Ruhestand verabschiedet wurde. Man konnte unserem Direktor nicht verübeln , diesen Anlass zu einer Bilanz seines Lehrerlebens zu nutzen. In Erinnerung geblieben ist mir sein Leitwort, ein Goethe-Zitat, er habe es als Lehrer als seine Aufgabe gesehen, "edlen Seelen vorzufühlen" (Es handelt sich hierbei um den Schluss des Gedichtes "Vermächtnis".). Ja nun, wir konnten damals nicht viel damit anfangen, zuckten naserümpfend die Achseln - und ich weiß nicht, was Sie sagen würden, wenn ich Sie als "edle Seelen" apostrophieren würde. Mit dem Fühlen ist das ja auch so eine Sache - aber andererseits denke ich heute, er hatte eine anspruchsvolle Zielvorstellung und den Mut, sich dazu zu bekennen. Zu seiner, des zu verabschiedenden Direktors, und zu unserer Ehre folgte dann noch eine Rede der stellvertretenden Schulleiterin. Sie hatte unter drei Fächern auch das Fach Philosophie studiert, das an unserer Schule jedoch nicht unterrichtet wurde, und nutzte die Gelegenheit, ihre geballten Kenntnisse der abendländischen Philosophie, sagen wir mal von den Vorsokratikern bis Heidegger, über und vor uns auszubreiten, ich erinnere an den Chinesen und verzichte auf weitere Details. Der eigentliche Höhepunkt der Feier war, wie immer an unserer sehr musisch ausgerichteten Schule, die Musik, Bachs 5. Brandenburgisches Konzert - das ich seither nicht ohne eine gewisse nostalgische Wehmut hören kann. Das große und gute Schulorchester war an diesem Tag durch einige Lehrer verstärkt und am Cembalo saß unser Lateinlehrer Dr. Kurt Becker. Hier nenne ich, ausnahmsweise und mit Absicht, einen Namen, hebe ihn heraus - so wie das Solo-Cembalo im 5. Brandenburgischen weite Strecken alleine zu spielen hat.
Ich nenne den Namen stellvertretend zum Einen für all die guten Lehrer, denen ich viel verdanke, aber auch um seiner selbst willen. Ein in makelllosen Hexametern abgefasstes Lobgedicht auf ihn in unserer Abizeitung endet mit den Zeilen: "Alle Zeit wird er leben in unseren Herzen, der Weise, Sokrates gleich an Ruhm, der trefflichste aller Lehrer." Von der 8. Klasse bis zum Abitur war Dr. Becker mein Lateinlehrer, ab der 10. habe ich auch Griechisch bei ihm gelernt. Wir fanden ihn "alt", als er zu uns kam, aber da er genau 20 Jahre älter ist als ich und ich damals 13 war, kann er ja er nur 33 Jahre alt gewesen sein - ein Alter, in dem heutige Menschen noch jung sind. Es mag daran gelegen haben, dass er eher zeitlos wirkte und sich dann später lange gut hielt und jünger aussah als er war. Er war kein Mann, für den Mädchenklassen schwärmen - solche hatten wir auch. Will sagen, kein gut aussehender Mann. Eher klein als groß, eher gedrungen als schlank, irgendwie ein bisschen quadratisch, von der Kopfform bis zu den Brillengläsern. Die Stimme eher knarzig. Schon in meiner eigenen Referendarzeit und erst recht heutzutage habe ich mich gelegentlich gefragt, wie er durch seine Lehrproben gekommen ist. Mit nichts bewaffnet als mit seinen Texten und mit einem Stück Kreide. Immer einmal wieder, wenn ich bunte Zettel verteilt habe für Gruppenarbeiten, gelbe Kärtchen an Flipcharts geheftet oder einen CD-Player mitgeschleppt, hatte ich das Gefühl, er sieht mir über die Schulter, blinzelt amüsiert und kritisch hinter seinen Brillengläsern und fragt: Was treibst du da eigentlich? Sie ahnen es schon - seine Methoden beschränkten sich auf das Lesen und Übersetzen der Texte, den Dialog mit uns, um die Herkunft von Wörtern, ihre Bedeutung oder grammatische Konstruktionen zu klären, die Wirkungsabsicht eines Textes herauszufinden. Hinzu kamen kleine und größere Referate, je älter wir wurden. Ich kann mich an keine Gruppenarbeit erinnern. In regelmäßigen Abständen dozierte er im Lehrervortrag, dabei einen Punkt an der Wand fixierend und nicht mit Blickkontakt zu uns - dennoch waren das die highlights, auf die wir warteten, einige unvergesslich und unvergessen. Hinter dem Punkt an der Wand schien er ganz anderes im Blick zu haben, vielleicht das Forum Romanum, wenn er uns Begriffe wie pietas oder res publica oder die pax romana erklärte. Was haben wir an ihm geschätzt, weshalb liebten wir ihn schließlich? Seine absolute Sachkompetenz; das sichere Wissen, dass ihm seine Unterrichtsgegenstände selber wichtig waren; das Gefühl, mit ihm gemeinsam an etwas zu arbeiten, einer größeren Sache zu dienen. Sein Umgang mit uns nahm keine Rücksicht auf unsere jeweilige Altersstufe, er holte uns nie dort ab, wo wir waren. Wir mussten mit ihm auf sein Level, dort begegneten wir uns dann auf Augenhöhe, ernst genommen als Partner. Dass ich auf der Uni von Anfang an keine Probleme hatte, mich in Seminaren zu beteiligen, verdankte ich sicher vor allem diesem Arbeitsstil. Natürlich hatte ich auch sehr gut Latein gelernt, beispielhaft Einsicht gewonnen in die Struktur einer Sprache, in Literatur und Philosophie der Antike (eine der zentralen Wurzeln Europas), in historische Zusammenhänge - woran ich im Studium nahtlos und problemlos anknüpfen konnte, was mir in anderen Bereichen leider nicht möglich war. Meist war seine Stimmung wohltemperiert und ausgeglichen, er verfügte über einen trockenen Humor, konnte aber auch heftig werden, wenn Aufgaben schlampig oder gar nicht erledigt wurden - einmal sagte er zu einer Mitschülerin "du saudumme Gans", wofür man heute als Lehrer gewiss vor den Kadi käme. Man hatte auch nicht den Eindruck , dass er uns anders behandelte, als er Jungen behandelt hätte. Auch diesen ruppigen Charme mochten wir an ihm. Wenn er einmal eine private Anmerkung machte, so galt sie seinen Studienjahren in Heidelberg oder der Tatsache, dass er noch als Schüler von der Schulbank weg Soldat geworden war, an der Beurteilung des Naziregimes ließ er keinen Zweifel, und da war auch viel Bitterkeit über eine betrogene Jugend, der es versagt geblieben war, langsam und nach ihren Gesetzen zu reifen. Mag sein, dass er uns auch deshalb alt vorkam. Wir wussten, dass er sonntäglich in seiner evangelischen Kirchengemeinde den Organistendienst versah und amüsierten uns in jüngeren Jahren über seine hochgebogenen Fingerkuppen.
Ich kehre zurück zu Bach und unserer Abifeier. Und Sie, liebe Zuhörer, vergessen zwischenzeitlich bitte nicht unsere Vereinbarung vom Anfang: ich berichte, Sie vergleichen: Was bleibt? Was zählt? Was ist wichtig? Oder: Abifeier - Thema mit Variationen.
Ein letzter Punkt: Wer waren eigentlich wir, die da saßen? Obwohl unsere Schule schon fast die Größenordnung des HAG hatte, waren wir aus zwei Klassen, Kurse gab es ja noch nicht, ganze 23 Abiturientinnen. 16, meine Klasse, aus dem neusprachlichen Zweig mit der Sprachenfolge Französisch, Latein, Englisch und eine kleinere Gruppe von 7 Schülerinnen mit naturwissenschaftlicher Akzentuierung. Eine Mitschülerin hatte 8 Geschwister, vier waren zu dritt, sieben waren zu zweit, es gab nur drei Einzelkinder. In zwei Fällen war der Vater nicht aus dem Krieg heimgekommen, nur in einer Familie hatten sich die Eltern scheiden lassen. Nur zwei Mütter waren berufstätig. Wer weiß, was unsere Lehrer sich dachten, als sie uns da so feierlich gewandet sitzen sahen. Wer weiß, was sie uns prophezeit hätten. So wenig, wie an jenem heiteren Märznachmittag jemand hätte voraus sagen können, dass noch nicht einmal ein halbes Jahr später durch Berlin eine Mauer gebaut würde, hätten sich wohl unsere Biographien prognostizieren lassen. Wir selber gaben für die Tageszeitung unsere Berufswünsche an: elfmal "Volksschullehrerin", sechsmal "Philologie", in zwei Nennungen mit der Theologie kombiniert - worunter dann meist auch wieder Lehrerinnen zu verstehen waren für Realschule oder Gymnasium; zwei Dolmetscherinnen, einmal Musikstudium, einmal Volkswirtschaft, einmal Mathematik, eine Mitschülerin hatte keine Angaben gemacht. Sie sind gewiss beim Zuhören selbst darauf gekommen: Alle wollten studieren. Berufe wie z.B. Bank- oder Reisebürokauffrau waren nicht im Blick. Dafür hätte man damals kein Abitur gebraucht. Viele heute mögliche Berufsziele und Studiengänge gab es noch nicht, dennoch ist eine gewisse Lehrerlastigkeit nicht zu übersehen. Man hätte ja auch Ärztin, Apothekerin oder Anwältin werden können. Sicher lag diese Präferenz auch an dem damals noch sehr kurzen Studium für den Volksschullehrerberuf und an der Familienfreundlichkeit des Lehrerberufs allgemein. Bei späteren Klassentreffen stellten sich dann kleine Verschiebungen zwischen verschiedenen Formen des Lehrerberufs heraus, die meisten gelangten an ihr Studienziel und blieben auch berufstätig, obwohl sie mehrheitlich dann verheiratet und Mütter waren. Eine Mitschülerin hatte als Berufsziel zwar auch "Volksschullehrerin" angegeben, aber wohl eher virtuell, denn sie hatte schon andere Pläne und das Schicksal andere Pläne mit ihr. Sie war irgendwann in der Mittelstufe zu uns gekommen als Repetentin, in der 9. oder 10. Klasse. Eine sehr ruhige Person, mollig und gemütlich, die älter und reifer wirkte als wir. Nachdem ihr Vater im Krieg gefallen war, hatte ihre Mutter wieder geheiratet, einen freundlichen Getränkegroßhändler, der uns ab jetzt bei Klassenparties oder sonstigen Festivitäten zu Vorzugspreisen belieferte. Da wir schon ein Mädchen mit dem Namen Gerda hatten, nannte unser Lateinlehrer die neue "altera Gerda" [ ….] - und so war das dann auch irgendwie mit ihr, eher so mitgeführt, nebenher laufend, nett … Sie gehörte ab jetzt immer zur guten Mittelklasse, war eine zuverlässige Helferin, wenn es ums Vorsagen ging, und überraschte erst, als sie nach dem schriftlichen Abitur zu denen gehörte (es waren vier), die wegen ihrer guten Leistungen, besonders in Latein, vom mündlichen Abitur befreit waren. Im schriftlichen Abitur war es in Latein unsere Aufgabe gewesen, drei Texte zum Thema "Glück" zu übersetzen und sie mit einer ausführlichen Begründung den Autoren Cicero, Sallust und Seneca zuzuordnen. In Deutsch hatte ein Thema gelautet "Was ist menschliche Größe?" Bald nach dem Abi heiratete altera Gerda, in der Abizeitung als "Lady mit kleinen Schwächen" charakterisiert, einen amerikanischen Offizier deutscher Abstammung, den sie über ihre Eltern kennen gelernt hatte, und ging in die Staaten. Man konnte sie sich gut als Geschäftsfrau und Familienmutter vorstellen. Als wir uns fünf Jahre nach dem Abitur zum ersten Mal wieder trafen, hatte das Schicksal bei ihr schon zugeschlagen. Als sich herausstellte, dass sie keine Kinder bekommen würde, hatte die Familie ihres Mannes auf einer Trennung bestanden, man brauchte für ein größeres Familienunternehmen einen Erben - sie hatte einen Schlaganfall erlitten und ihr Stiefvater hatte sie, teilweise gelähmt und der Sprache nicht mehr mächtig, nach Hause geholt. Sie war in einem Sanatorium. Als wir uns 1981 trafen, um den 20. Jahrestag unseres Abiturs zu begehen, war sie wieder dabei, im Rollstuhl, das Sprechen hatte sie mühsam wieder erlernt, jedoch nie mehr so wie zuvor, auch das Schreiben mit der linken Hand, weil die rechte nie mehr so richtig funktionierte - eine gepflegte Erscheinung, wieder verheiratet, mit einem ebenfalls behinderten Mann, den sie bei ihrer Arbeit für Behinderte kennen gelernt hatte. Sie war und blieb bis zu ihrem Tod Vorsitzende der "Interessengemeinschaft zur Hilfe und Beratung Körperbehinderter", setzte sich in dieser Eigenschaft z.B. mit dem Bau eines Behindertenheimes gegen eine bürokratische Stadtverwaltung durch und erhielt , als bisher einzige von uns, das Bundesverdienstkreuz. War bei alledem nie mehr richtig gesund, Herz-Kreislaufprobleme führten 1994, da war sie 53 Jahre alt, zu ihrem Tod. Über ihrer Todesanzeige stand: "Nach schwerster Krankheit und einem pflichterfüllten Leben hat sie uns verlassen." Ein Text, den sie mühelos hätte ins Lateinische übersetzen und der auch in seiner epigrammatischen Präzision auf einem römischen Grabstein hätte stehen können. Was bleibt? Was zählt? Was ist wichtig?
Ich kehre zurück zum Schluss unsrer Abifeier. Wir Abiturientinnen, damals noch unbeschwert und erleichtert nach den über- und bestandenen Strapazen, kamen natürlich auch noch mit einer Rede an die Reihe. Wir hatten sie zu mehreren ausgebrütet und daran gefeilt, hatten erfolgreich und mit erpresserischen Methoden verhindert, dass unser Schulleiter sie vorher las und zensierte. Dabei war es eine sehr wohlerzogene und höfliche Rede voller Dankbarkeitsadressen, noch nicht jene berühmte Thematisierung der "Erziehung zum Ungehorsam", die Karin Storch (heute Leiterin des ZDF-Studios in Tel Aviv) 1967 in Frankfurt hielt und dafür 1968 den Theodor Heuss-Preis bekam. Unsere Kritik war höflich verpackt und vermutlich nur von Insidern wahrnehmbar, eher war an den Aussparungen, wem wir nicht dankten, abzulesen, wo unsere Sympathien und Antipathien lagen. Wir hatten unsere Rede so aufgebaut, dass sie mit einem Hesse-Zitat endete. Wir waren nicht unbedingt Hesse-Fans, aber den Text hatten wir geeignet gefunden, unsere Forderungen an uns selber auszudrücken. Wir versuchten damit auch zu zeigen, dass wir die Deutehoheit über unser eigenes Leben selber behalten und sie nicht den redenden Lehrern, Eltern, Stadtverordneten überlassen wollten. Ich schenke Ihnen, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, dieses Zitat zum Abschied, wie ein Gefährt, ein Boot z. B., in das Sie einsteigen können, wenn Sie es denn wollen. Es lautet so: "Eure Zukunft ist nicht dies und das, ist nicht Geld und Macht, ist nicht Weisheit oder Gewerbeglück. Eure Zukunft und euer schwerer und gefährlicher Weg ist dieser: reif zu werden." Ich danke Ihnen, dass Sie mir zugehört haben.