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Abiturrede 2005 - Herr Norbert Brachtendorf

Liebe Kolleginnen und Kollegen,
sehr geehrte Eltern, verehrte Gäste,
liebe Abiturientinnen und Abiturienten!

In meiner Anrede erwähne ich sie zuletzt, gerade weil sie heute im Vordergrund stehen und weil es grammatisch besser passt, denn es geht gleich mit ihnen weiter. Sie haben sich ein Motto gewählt, kabiribik - 13 Jahre rum. Ihre Sehnsucht geht offenbar in die Ferne, dorthin, wo man Cocktails unter Palmen schlürft und das Meerwasser nicht kälter als 25 Grad ist. Nach fast 13 Jahren Schule und angesichts des hartnäckigen Winters durchaus verständlich. Auch das schön gestaltete Ambiente der Bühne macht deutlich: Sie wollen weg und möglichst weit.

Dabei sind sie in ihrer Schulzeit nicht wenig gereist: Ich denke an ihre Fahrten nach London und Polen sowie an den Schüleraustausch mit Frankreich und Kroatien. Manche von ihnen haben während ihrer Schulzeit Erfahrungen im außereuropäischen Raum gesammelt, bspw. in Neuseeland oder in Kanada. Zum Abschluss der 10. Klasse waren sie in Berlin, und ihre Kursfahrten in der Jahrgangsstufe 12 führten sie in die Toskana und nach Prag. Sie waren also durchaus gut unterwegs während der vergangenen Jahre am HAG. Ich habe mich immer sehr gefreut, wenn einmal der gesamte Deutsch-LK im Unterricht anwesend war. Gelegentlich kam es vor. Prag ist übrigens ein interessantes Stichwort. Wenn ich an ihren Jahrgang denke, dann fällt mir nicht in erster Linie Karibik ein, auch nicht karibische Nächte; nein es waren die Prager Nächte in jenem Hotel, wo drei Stammkurse untergebracht waren. Gerne hätte ich die Nacht jeweils im Tiefschlaf verbracht wie der Kollege Fuchs in seinem "Bau". Es war mir nicht vergönnt. Wenn ich nachts durch die Gänge unseres Hotels schlich, um Lärmquellen auszuschalten, dann hätte ich in jeder der vier Nächte aus Faust I zitieren können: "Ihr naht euch wieder schwankende Gestalten..."

Mit dem Schwanken war es meist nicht getan, es folgten in der Regel noch andere Phasen, die ich allerdings an dieser Stelle nicht weiter ausführen möchte. Die Cocktailbar in der Nähe des Prager Hotels hatte sie offenbar immer gut auf das Nachtleben eingestimmt und hat sie wohl auch zu ihrem Abi-Motto inspiriert. Vielleicht hätte auch ich die Prager Nächte besser zugebracht, wenn ich die Cocktailbar intensiver besucht hätte. (Da war der mein geschätzter Kollege Herr Fuchs schlauer.)

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, sie haben nun 12 1/2 Jahre Schule hinter sich gebracht, davon etwa 8 1/2 Jahre allein am HAG - die meisten von ihnen jedenfalls. Zu Beginn des Schuljahres 1996/97 wurden sie in dieser Aula zur Einschulung begrüßt; sie sind damit der erste Jahrgang, der die gesamte Gymnasialzeit in diesen Räumen hier verbrachte. Sicher, sie haben noch viel Baulärm ertragen müssen, sind dafür aber in den Genuss von ganz neuen Fachräumen gekommen und konnten eine Bibliothek nutzen, deren Ausstattung von Jahr zu Jahr besser wurde und heute ein Glanzstück dieser Schule darstellt. Damals hieß diese Schule schlicht und einfach Gymnasium Haßloch; sie haben den spannenden Prozess der Namensgebung miterleben dürfen - eine Rarität, etwas , was Schüler und Lehrer normalerweise in einem Schulleben nicht erfahren.

Was bleibt von ihrer Schulzeit? Die binomischen Formeln aus dem Mathe-Unterricht, die Caesar-Lektüre aus Latein-Kursen oder die Auseinandersetzung mit Goethes Faust in der Oberstufe? Was bleibt hängen von all den Jahren hier am HAG? Ist es all das Gelernte oder eher das Außerunterrichtliche - die verschiedenen Klassen- und Kursfahrten, das erfolgreich aufgeführte Musical "Mamma Mia"oder der 2. Preis des Philosophiegrundkurses unter Leitung von Herrn Cohnen zum Thema "Neue Medien"? Was nehmen sie mit aus ihrer Schulzeit? War es eine insgesamt gelungene Zeit, die sie, ein Stück weit jedenfalls, in ihre Zukunft trägt?

Konnten wir Lehrer Prozesse anstoßen, die geeignet sind, aus Schülern Persönlichkeiten werden zu lassen. Wir hoffen sehr, dass wir nicht nur Wissen, sondern auch Bildung vermitteln konnten. Wir hoffen trotz all dem, was in ihrer Abi-Zeitung steht, dass wir in ihrer Schulzeit glaubhaft Werte darstellen konnten, und wir hoffen schließlich, dass aus Wissen auch ein Gewissen geworden ist.

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, sie erhalten gleich im Anschluss ihre Zeugnisse, die ihnen die Allgemeine Hochschulreife bescheinigen. Wichtig ist mir hier der letzte Teil dieser Formulierung - "Reife". Reifen ist ein Prozess, der in ihrem Alter schon ein gutes Stück vorangekommen, aber sicher noch nicht abgeschlossen ist. Reifen heißt zu begreifen, wer ich bin und wer ich werden kann. Im antiken Griechenland lautete der Kernsatz über dem Eingang des delphischen Orakels: "gnothi se auton" - Erkenne dich selbst! Reifen heißt, seine Identität gewinnen.

Hannah Arendt verwendet in diesem Zusammenhang einen zentralen Begriff ihres Denkens, den der "Natalität"; gemeint ist die "Gebürtlichkeit" des Menschen. Ich zitiere: "Weil jeder Mensch aufgrund des Geborenseins initium, ein Anfang und Neuankömmling in der Welt ist, können Menschen Initiative ergreifen, Anfänger werden und Neues in Bewegung setzen." Diesen Anfang - das Geborenwerden - können Menschen in jedem Handeln und Sprechen immer wieder neu setzen. Unserer ersten Geburt können wir nun dadurch entsprechen, dass wir selbst aus eigener Initiative etwas Neues anfangen. Dieses Einschalten in die Welt bezeichnet Hannah Arendt als "zweite Geburt", "in der wir die nackte Tatsache des Geborenseins bestätigen, gleichsam die Verantwortung dafür auf uns nehmen."       

Diese Gedanken unserer Namensgeberin passen gut zu dem heutigen Tag. Als Abiturienten verlassen sie die Schule, in der sie keinen geringen Teil ihres Lebens verbracht haben. Sie haben hier Freundschaften geschlossen, von denen manche vielleicht sogar ein ganzes Leben lang halten. Sie haben an diesem Ort sicher viele positive, aber auch negative Erfahrungen gemacht haben. Doch trotz mancher Negativerfahrung stellte Schule doch einen Raum der Geborgenheit dar. Sie hatten eine Orientierung, vieles war vorgegeben und sie bewegten sich innerhalb festgesteckter Grenzen. Nun beginnt ein neuer Lebensabschnitt, sie lassen Menschen und Räume hinter sich und müssen einen Neuanfang wagen, sie müssen initiativ werden in einem Maße, wie sie es bisher nicht mussten.

Die dem Anfang innewohnende Weltoffenheit bedeutet aber nun nicht, dass der Willkür Tür und Tor geöffnet ist, im Gegenteil: Im Prinzip des Anfangens sieht Hannah Arendt die Orientierung am Anderen und an den vorangegangenen Generationen, ganz im Sinne von Kants kategorischem Imperativ, durch den jeder Mensch zum Gesetzgeber werde. Das neben "initium" andere lateinische Wort für Anfang - nämlich "principium" - verweist auf die sittliche Orientierung des Neuanfangens.

Für Hannah Arendt war insbesondere die Tugend des Mutes wichtig, die Fähigkeit handelnd und sprechend Öffentlichkeit zu wagen. Damit verbindet sich auch die Forderung an jeden Menschen, nicht gedankenlos zu leben. Im Denken, im Sprechen des Menschen mit sich selbst, kann er , so Hannah Arendt, die Kraft entwickeln "Nein" zu sagen. Diese Kraft des Neinsagens, die den Nichtmitläufer vom Mitläufer unterscheidet, resultiert aus der Identität, die jemand erlangt hat.

Ein fürchterliches Negativbeispiel für nicht erreichte Identität sah Hannah Arendt in der Person Adolf Eichmann. Während der Beobachtung des Eichmann-Prozesses in Jerusalem gelangte sie zu der Einsicht, dass man in dem logistischen Wegbereiter des Holocausts nicht das personifizierte Böse zu sehen habe, sondern den dummen, gedankenlosen Mitmacher, den Schreibtischtäter Eichmann, der nie zu einer eigenen Identität gefunden habe. Er verkörperte für sie die "Banalität des Bösen". Ein Indiz für diese fehlende Identität war für Hannah Arendt das klischee- und formelhafte Sprechen Eichmanns, das damals übrigens auch dem Schriftsteller Harry Mulisch auffiel, der für eine holländische Zeitung dem Prozess beiwohnte.

Damals gab es Menschen, die Nein sagten und ihr eigenes Leben riskierten. Es gab das dänische Volk, das sich mit der jüdischen Bevölkerung des Landes solidarisierte. Von 7800 Juden waren schließlich nur noch 477 auffindbar. Hannah Arendt schreibt dazu in ihrem Buch "Eichmann in Jerusalen": "Dieses einzige und bekannte Beispiel von offenem Widerstand einer Bevölkerung scheint zu zeigen, dass die Nazis, die solchem Widerstand begegneten, nicht nur opportunistisch nachgaben, sondern gewissermaßen ihre Meinung änderten: Unter Umständen haben offenbar auch sie die Ausrottung eines ganzen Volkes nicht mehr so selbstverständlich gefunden."

Wir haben heute die Möglichkeit Nein zu sagen, ohne gleich das Leben aufs Spiel zu setzen. Wir brauchen nur ein wenig Mut, Öffentlichkeit zu wagen. Dieser Mut ist im Grunde immer erforderlich, heutzutage vielleicht sogar in besonderer Weise!

Ich denke mit Erschrecken an das Erstarken der rechtsradikalen Parteien in Ostdeutschland; ich erschrecke insbesondere vor den jüngsten Vorfällen im sächsischen Landtag. Vor einigen Wochen war im Spiegel sinngemäß etwa Folgendes zu lesen: Der Rechtsradikalismus in seinen verschiedenen Varianten ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Seine Vertreter sind nicht mehr unbedingt an Springerstiefeln und Glatze zu erkennen. Sie tragen Anzug und Krawatte, haben Jura studiert und treten selbstbewusst und durchaus gewandt auf dem öffentlichen Parkett auf.

Ich bitte sie, gerade als Absolventen des HAG: Sagen sie Nein zu Vorurteil und Rassismus, wehren sie sich gegen Unrecht in jeglicher Form, ergreifen sie Initiative für den Schutz der Menschenwürde; kurzum: Seien sie Sand, nicht Öl im Getriebe der Welt! Dann würden sie auch im Nachhinein bestätigen, dass sie auf der richtigen Schule waren.

Und nun noch einige Gedanken zum zweiten Teil ihres Abi - Mottos: "13 Jahre rum!" Rumkriegen klingt nicht sehr positiv, es klingt nach Erleiden und Erdulden. Endlich ist die Zeit rum. Gott sei Dank - vorbei! Vielleicht dachten sie ja auch nur an das karibische Nationalgetränk und fanden Gefallen an dem Wortspiel - wie auch immer.

Meine zweite Bitte an Sie: Kriegen sie die folgenden Jahre und ihre Lebenszeit insgesamt nicht einfach nur rum. Ergreifen sie mit Freude Initiative, gestalten sie ihr Leben und warten sie nicht passiv darauf, dass sich etwas ereignet und verändert. In ihrer Abi-Zeitung ist bei dem ein oder der anderen von Ihnen auf die Frage "Was kommt nach dem Abi?" zu lesen: "Mal schauen, wohin der Wind mich treibt." oder auch "Keine Ahnung!" Das klingt nicht sehr initiativ. Gestalten Sie ihr Leben bewusst, nicht gedankenlos, und werden sie dabei eine Person, die mit sich sich selbst eins ist, die authentisch lebt und klare Ziele und Werte vor Augen hat. So könnten Sie glücklich werden!

Es war viel von Hannah Arendt und dem Neuanfangen die Rede. Diese Gedanken erinnern mich an das berühmte Hesse- Gedicht "Stufen", das einigen von ihnen hoffentlich noch in Erinnerung ist, denn sie mussten es ja auswendig lernen. Da es gut zum heutigen Tag passt, möchte ich abschließend die 1. Strophe vortragen.      

Stufen

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muss das herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft zu leben.  

Autor: Tobias Grehl