Abiturrede 2003 - Frau Karin Reinhardt
Dabei sein ist alles - der Sieg ist der Lohn für die Besten. Dies, verehrte Gäste, waren ganz besondere Wettkämpfe, denn alle haben gesiegt - und jetzt sind sie alle gekommen. In einer feierlichen Prozession zogen die 66 Besten Haßlochs, die Kampfrichter, die Gymnasten und die Festabordnungen durch das Eingangsportal zum Zeustempel. Ein großartiges Bild, wie sie alle majestätisch im heiligen Tempel sitzen, um dort im Anblick unseres Göttervaters, der olympischen Ringe und des olympischen Feuers, den so heiß begehrten Kranz vom Ölbaum aus dem heiligen Hain des Zeus zu empfangen.
Ich begrüße die diesjährigen Olympioniken, die Teilnehmer und Sieger der Wettkämpfe 2003 ganz herzlich und gratuliere Ihnen zur bestandenen Reifeprüfung - und ich entschuldige mich bei der Fachschaft Geschichte und besonders bei meinem Stammkurs für die historischen Verbiegungen meiner Einleitung.
Wir wollen Herrn Seger und Herrn Brech, aus deren Händen Sie sehr bald das heiß begehrte Papier überreicht bekommen, lieber nicht mit Göttern in Verbindung bringen. Das wäre nicht gut - für die beiden nicht und für die Götter auch nicht. Ein Tempel, ein Gebäude, in dem die Gottheit anwesend ist, sichtbar oder unsichtbar gedacht wird, scheint unsere Aula auch nicht zu sein. Die räumlichen Ausmaße könnten vielleicht an einen Tempel erinnern. Alles andere scheint äußerst profan - keine Säulen, keine Opferstätten und - sehr moderne Fußbodenmosaike.
Die Festabgeordneten, das sind Sie, sehr geehrte Eltern, Angehörige und Freunde der Olympioniken. Auch an Sie geht mein Glückwunsch. Ich weiß sehr wohl, welch angenehmes und beklemmendes Gefühl zugleich sich in Elternherzen breit macht, wenn ein Kind erwachsen wird, wenn es an einem Wendepunkt in seinem Leben steht, wenn ab jetzt alles oder fast alles ganz anders wird. Und ich weiß sehr wohl, wie viel Mühe und wie viel Freude die Erziehung von jungen Menschen macht und wie wichtig familiäre Liebe, Fürsorge und Geborgenheit, geschwisterliche und freundschaftliche Rivalität und Solidarität für die körperliche und seelische Gesundheit eines Kindes und Jugendlichen ist - und damit auch für schulischen Erfolg.
Die Kampfrichter und Gymnasten haben etwas weiter hinten Platz genommen. Gymnasten, das sind in der Antike die wissenschaftlich ausgebildeten Sportlehrer. Unsere Gymnasten und die Kampfrichter stehen täglich in der ersten Reihe. Das erklärt vielleicht, warum sie bei solch offiziellen Anlässen gerne im Schatten bleiben. Aber auch euch und Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, möchte ich gratulieren, denn professionelle Trainingseinheiten, die ordnungsgemäße Durchführung eines Wettkampfes und die Siegesentscheidung gehört in die Hände von kompetenten Gymnasten und Kampfrichtern, deren Haupttugenden neben der genauen und profunden Kenntnis der Disziplinen und Wettkampfregeln Objektivität, Unparteilichkeit und Unbestechlichkeit sein muss.
Bedeutung und Würde olympischer Kampfrichter in der Antike lassen sich im übrigen daran ermessen, dass sie ein Purpurgewand trugen, einen Amtseid leisteten und sich Reinigungsriten zu unterziehen hatten. - Eine kleine Anregung für künftige Spiele. Apropos, künftige Spiele. Da sind ja auch die Athleten, die noch im Trainingslager sind, die noch nicht so fit sind, als dass sie an den Spielen 2003 hätten teilnehmen können. Willkommen als Zuschauer der diesjährigen Siegerehrung. Ihr wisst, sportlichem Erfolg im Wettkampf geht naturgemäß eine Vorbereitung voraus, deren Umfang und Intensität für den Erfolg bestimmend sind. Möge diese Siegerehrung Ansporn für eure schulischen Taten und Leistungen sein.
Doch zurück zu den Hauptakteuren, den Teilnehmern und Siegern der Abilympia 2003 und zurück zu den alten Griechen. Sie, liebe Olympioniken, haben Ihr Training, teilweise ganz, einige auch nur die letzten Jahre am Hannah-Arendt-Gymnasium absolviert. Ein Gymnasion bezeichnete in der griechischen Antike zunächst einmal den Ort und den Rahmen der Wehrertüchtigung für die jungen Männer der Polis, später den Ort der körperlichen Ausbildung allgemein, und schließlich wird ein Gymnasion eine Institution für überwiegend geistige Erziehung. In dem berühmtesten Gymnasion in Athen, der Akademie, hat Aristoteles gelehrt. Die Zugehörigkeit zum Gymnasion schied Privilegierte von der einfachen Bevölkerung. Die griechische Oberschicht bezeichnete sich selbst als Elite, und in der Tat genossen die Mitglieder des Gymnasions handfeste Vorteile bei der Besteuerung. Gymnasien waren Mittelpunkte des öffentlichen Lebens. Sie gaben den Rahmen für öffentliche Feierlichkeiten ab und dienten der Repräsentation. In diesem Sinne steht das Hannah-Arendt-Gymnasium und besonders diese Aula in einer guten Tradition.
Die Leitung eines Gymnasions konnte sich übrigens nur derjenige leisten, der über die notwendigen Mittel verfügte und dazu noch bereit war, diese für die Allgemeinheit einzusetzen. Es war ein Ehrenamt, das von den Mitgliedern der lokalen Aristokratie erwartet wurde. Der Leiter eines Gymnasions, der Gymnasiarch, musste das Heizmaterial für das Bad und das täglich in reichem Maße notwendige Öl für die Salbölung der Sportler liefern. Elitenbildung, fiskalische Vorteile, Gymnasiarch und Salböl - das alles können Sie sich abschminken. Gewiss ist aber, dass die Zugehörigkeit zu einem Gymnasium und das abschließende Abiturzeugnis immer noch eine gute Eintrittskarte in das wirkliche Leben darstellt, dass es ihnen Chancen eröffnet, zwischen verschiedenen Möglichkeiten zu wählen, dass es der Anfang sein kann, Ihr Wissen weiterhin zu vertiefen und den Dingen auf den Grund zu gehen. Wo, wann und wie Sie diese Eintrittskarte einlösen, das liegt jetzt in Ihrer Hand und Ihrer Verantwortung. Ich wünsche Ihnen allen, dass Ihre Erwartungen, Wünsche, Vorstellungen und Hoffnungen dabei in Erfüllung gehen.
Ein wesentliches Merkmal der antiken Spiele war der Friede vor, während und nach der Durchführung der Wettkämpfe. Die Bekanntmachung durch offizielle Boten der veranstaltenden Polis bewirkte das Inkrafttreten des Festfriedens. Die gesamte Kultgemeinde wurde unter den besonderen Schutz derjenigen Gottheit gestellt, zu deren Ehren das Fest begangen wurde. Der Inhalt des Festfriedens bezog sich im wesentlichen auf die Unverletzlichkeit des Territoriums der Polis, die das Kultfest ausrichtete und beinhaltete die sichere An- und Abreise der Athleten, Zuschauer und Festgesandtschaften. Der Friede war schon bei der Durchführung der diesjährigen Wettkämpfe gestört. Während der schriftlichen Abiturprüfung heulten die Sirenen, die Feuerwehr rückte an und nur dank einer überlegt und rasch handelnden MSS-Leitung kam es nicht zu einem Abbruch und zur Evakuierung. Die Wettkämpfe konnten ordnungsgemäß durchgeführt werden.
Seit einer guten Woche ist unser aller Friede nachhaltig gestört. Die Welt ist wieder einmal nicht im Lot und wir sitzen hilflos vor den Fernsehapparaten und hören und sehen wie ein Land, das als eines der ersten Grund- und Menschenrechte, individuelle Freiheiten verfassungsmäßig festschrieb, den Krieg als Mittel einsetzt, um einen Diktator zu stürzen und dafür in Kauf nimmt, dass Zivilisten, Frauen, Männer und Kinder dem Wahnsinn eines modernen Krieges ausgesetzt sind, ihr Leben verlieren, zumindest an Leib und Seele Schaden nehmen.
In der Antike bedeutete der Festfriede keineswegs eine totale Waffenruhe und es soll sogar vorgekommen sein, dass es während der Spiele in der Altis, dem heiligen Hain des Zeus zur Schlacht zwischen zwei verfeindeten Griechenstämmen kam.
Wenn das antike Athen Krieg führte, ging es auch um Macht, um Hegemonialstreben. Es ging aber auch immer um Freiheit: Freiheit von persischem Despotismus, Sicherung der Freiheiten eines demokratischen Stadtstaates. Wenn heute die Worte Krieg und Freiheit miteinander in Zusammenhang gebracht werden, um einen Militärschlag zu rechtfertigen, muss einem angesichts moderner Vernichtungswaffen und Kriegstechnologie unweigerlich ein großes Unbehagen befallen.
Die olympischen Spiele in der Antike und heute - da gibt es sicherlich mehr Unterschiede als Ähnlichkeiten: Damals kultische Wettkämpfe zu Ehren der Gottheit - heute rein sportliche Wettkämpfe. Die griechischen Götter wurden vom Olymp heruntergeholt und ersetzt durch unsere modernen Götter, durch Geld, Kommerz und Medien; damals die Begrenzung auf wenige Disziplinen, heute eine Vielzahl von Wettbewerben in den Sommer- und Wintersportarten, Die Teilnehmer waren damals freie Griechen und nur Männer, merkwürdigerweise durften Frauen nicht einmal als Zuschauer den Spielen beiwohnen, zumindest nicht wenn sie verheiratet waren. Damals panhellenische Spiele, heute Wettkämpfe, bei denen Athleten aus aller Welt, das citius, altius, fortius versuchen.
Die vielen Jahrhunderte überdauert hat die olympische Bewegung, die olympische Idee mit Aspekten wie Chancengleichheit aller Athleten, körperliche Höchstleistung, das Sich-Messen im Wettkampf, Nationalismus im unkriegerischen, guten Sinne, Internationalität, der Vorstellung von Sportlichkeit als Fairplay und die Begeisterung für diesen besonderen Wettkampf. Von den genannten Aspekten möchte ich zwei etwas genauer beleuchten, nämlich Fairness und Leistung. Fairness bezeichnet das ehrenhafte, anständige Verhalten, die ethische Grundhaltung eines Sportlers. Fairness führt dazu, Sieg und Niederlage sachlich zu verarbeiten, nicht um jeden Preis gewinnen zu wollen, Spielregeln einzuhalten, im Partner nur den sportlichen Gegner, nicht den Feind zu sehen.
Unter dem Druck der zunehmenden Kommerzialisierung und Professionalisiserung des Sports haben Leistung und Erfolg häufig oberste Priorität und damit muss Fairness in den Hintergrund treten, das Foul wird spielfähig. Nicht nur im Sport, in vielen Bereichen unserer Gesellschaft scheint uns das Fairplay abhanden zu kommen - von Wirtschaft und Politik will ich hier gar nicht reden. In fast jeder Talkshow, in den Vorabendsoaps, in Quizsendungen, in jedem Actionfilm geht es häufig darum, den Partner fertig zu machen, die eigene Position auf Kosten des anderen durchzusetzen, sich Vorteile zu verschaffen, die Schwächen des anderen auszunutzen. Die Mittel, die dazu eingesetzt werden, werden immer weniger hinterfragt, ein ethischer Bezugsrahmen kommt nicht in Betracht. Das Recht des Stärkeren hat in unserer Gesellschaft Konjunktur.
13 Jahre Schule, das sind 13 lange Jahre tägliche Übungsmöglichkeiten in Sachen Fairplay. Da gilt es zu lernen, mit Klassenkameraden zurechtzukommen, sich mit Lehrern auseinanderzusetzen, Erfolg und Misserfolg zu verarbeiten, die eigene Position zurechtzurücken, Spielregeln zu erstellen und einzuhalten, die das gemeinsame Lernen und Arbeiten erst möglich machen. Fairness bezieht sich immer auf ein Gegenüber und bedeutet, das eigene Verhalten zu reflektieren, wachsam zu sein, sich der Wirkung des eigenen Tuns auf andere bewusst zu werden. Die faire Auseinandersetzung mit dem Anderen und mit dem Andersartigen ist eine tägliche Herausforderung im Umgang mit anderen Menschen. Fairness ist damit nicht nur ein wesentliches Ziel des Sportunterricht, sondern von Erziehung allgemein.
Ich wünsche mir sehr, dass Sie liebe Abiturientinnen und Abiturienten am Hannah-Arendt-Gymnasium die faire Auseinandersetzung gelernt haben, dass Sie gelernt haben, das eigene Verhalten, die eigene Meinung innerhalb eines Wertesystems einzuordnen und zu beurteilen. Ich will nicht in weinerlichem Ton den allgemeinen Verfall der Sitten beklagen, aber ich bin zutiefst davon überzeugt, dass das Fairplay eine bessere Voraussetzung für ein zufriedenes, waches und glückliches Leben ist als das Foul. Und nur glückliche, wache und zufriedene Menschen können eine gute Zukunft gestalten.
Leistung - ein strapazierter Begriff, besonders im schulischen Kontext. Aus anthropologischer Sicht ist jeder Mensch ein ‚leistendes' Wesen. Leistung ist der Prozess und das Ergebnis einer Handlung zugleich. Etwas leisten kann bedeuten, dass man eine Sache gut macht, dass einem etwas gelungen ist. Es geht um das messbare Ergebnis einer Handlung, um ein Resultat, das in Noten oder Punkten bescheinigt wird. Leistung kann sich aber auch auf das Individuum zurück beziehen, es kann bedeuten, dass man etwas besser gemacht hat als zuvor. Hier geht es mehr um persönliche Anstrengung, um individuelle Möglichkeiten, um persönliche Zielsetzung. Ein alter olympischer Grundsatz lautet übrigens, dass nicht so sehr die Leistung, sondern vor allem das beharrliche Bemühen sie zu erreichen, ethisch wichtig ist.
Sie alle haben in Ihrer Schulzeit in diesem Sinne häufig und vieles, einige von Ihnen sogar Außergewöhnliches geleistet, als Prozess und als Ergebnis. Ihr Abiturzeugnis ist auf jeden Fall dafür ein schöner Beweis. Die 152 Kursarbeiten und 250 schriftlichen Überprüfungen, die Judith für die Bierzeitung ausgerechnet hat, sind in diesem Zusammenhang ja nur anschauliche, statistische Größen im olympischen Rahmen von schneller, höher, weiter. Das Bemühen, die Anstrengung geben diese Zahlen nicht wieder.
Bemühen, Beharrlichkeit, Anstrengung sind individuelle Größen und jede und jeder von Ihnen kann das Erreichte nur für sich selbst beurteilen und messen. Die Punkte in Ihrem Abiturzeugnis geben darüber kaum Auskunft.
Ich komme zum Schluss - und verabschiede mich an dieser Stelle schon mal vom Sport und von der Antike. Leistung als Anstrengung, als Bemühen, als Beharrlichkeit bedeutet auch Handeln. Das menschliche Handeln gehört, das wissen wir seit wir uns mit unserer Namenspatronin beschäftigen, neben dem Sprechen zu den Tätigkeiten des Menschen, die seine Einzigartigkeit ausmachen. Ein Handelnder steht immer in Beziehung zu anderen Menschen, im Handeln verwirklicht der Mensch seine Fähigkeit, etwas Neues anzufangen, einen Prozess in Gang zu bringen. In einer Gemeinschaft, in der viele Menschen zusammenleben müssen, garantiert die Freiheit zu handeln, dass jeder seine Individualität behält und dass jeder die Eigenart des anderen nicht als Einschränkung empfindet, sondern als Chance begreift. Handeln beinhaltet nach Hannah Arendt die Fähigkeit Initiative zu ergreifen, ein Anfänger zu sein, Neues in Bewegung zu setzen. Sie sagt: "Es liegt in der Natur eines jeden Anfangs, dass er, von dem Gewesenen und Geschehenen her gesehen, schlechterdings unerwartet und unerrechenbar in die Welt bricht. Die Unvorhersehbarkeit des Ereignisses ist allen Anfängen und allen Ursprüngen inhärent."
Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, Für Sie gilt es jetzt, Ihr Leben neu zu gestalten, einen Anfang zu wagen. Ich wünsche Ihnen allen für Ihre Zukunft Beharrlichkeit, Ausdauer, Durchhaltevermögen - Tugenden also, die Sie für eine erfolgreiche Berufsausbildung brauchen werden. Ich wünsche Ihnen auch die guten Ergebnisse, den Erfolg, der motiviert und anspornt. Ich wünsche Ihnen die Möglichkeiten, Ihre Zukunft aktiv handelnd gestalten zu können. Und ich wünsche Ihnen das Wunder, das jedem Neuanfang innewohnt, wenn es "unerwartet und unerrechenbar in die Welt bricht."