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Abiturrede 2013 - Jochen Strauß

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
liebe Eltern, Verwandte und andere Gäste,

die Abiturrede halten zu dürfen, ist in meinen Augen ein Ehrenamt. Dieses Amt wollte ich nicht ablehnen und so freue ich mich, dass ich diese Aufgabe nun schon zum zweiten Mal übernehmen durfte. Anlässlich meiner ersten Abiturrede hatte ich mir extra diesen Anzug gekauft und ich muss sagen: Die damalige Investition hat sich gelohnt.

Heute ist also der besondere Tag, auf den ihr in den vergangenen Jahren hingearbeitet habt. Einige von euch hatten dieses Ziel schon lange vor Augen, andere sind erst in der Oberstufe auf den Zug in Richtung Abitur aufgesprungen. Dabei habt ihr alle so manche Mühen auf euch genommen und auch sicherlich den einen oder anderen Rückschlag erlitten. Euch alle eint nun aber, dass ihr euer Ziel erreicht habt und heute eure Abiturzeugnisse erhalten werdet – dazu meinen herzlichen Glückwunsch!

Abitur 2013 – wenigstens das Motto ist nüchtern!

Dieses Leitwort habt ihr als Überschrift über euer Abitur gesetzt. Vielleicht habt ihr euch deshalb einen Naturwissenschaftler als Redner ausgesucht, da man diesen ja im allgemeinen eine gewisse Nüchternheit nachsagt. Nun, ich hoffe, dass ich euren Erwartungen diesbezüglich gerecht werden kann.

Betrachten wir das Wort „nüchtern“ einmal ein wenig genauer: Im Duden findet man unter anderen folgende Bedeutungen:

  • nicht betrunken; keinen Alkohol getrunken habend

  • ohne (nach dem nächtlichen Schlaf) schon etwas gegessen, getrunken zu habe

  • sich auf das sachlich Gegebene, Zweckmäßige beschränkend; sachlich

  • auf das Zweckmäßige ausgerichtet; ohne schmückendes Beiwerk


Wenn ich an heute und morgen denke, wird es sicherlich nicht ganz so nüchtern zugehen wie eben beschrieben, denn die Feier jetzt und der Abiball morgen Abend sollen ja alles andere als nüchtern über die Bühne gehen. Einen kleinen Vorgeschmack konnte man ja auch schon beim diesjährigen Abistreich bekommen.

Stellen wir die einzelnen Bedeutungen des Wortes „nüchtern“, die der Duden nennt, einmal in den Zusammenhang mit den Feierlichkeiten:

  • nicht betrunken; keinen Alkohol getrunken habend

    Ich gehe einmal davon aus, dass im Laufe des Tages noch das eine oder andere Gläschen Sekt getrunken werden wird.

  • ohne (nach dem nächtlichen Schlaf) schon etwas gegessen, getrunken zu haben

    Wahrscheinlich sind einige von euch vor Aufregung – oder Stress beim Styling? – schlichtweg nicht dazu gekommen, heute morgen schon etwas zu essen.

  • sich auf das sachlich Gegebene, Zweckmäßige beschränkend; sachlich

    Hoffentlich nicht, schließlich wollen wir alle euer bestandenes Abitur ausgelassen zusammen feiern.

  • auf das Zweckmäßige ausgerichtet; ohne schmückendes Beiwerk

    Allein schon der durchaus festliche Rahmen dieser Zeugnisübergabe zeigt uns, dass alles ganz anders als eben genannt verlaufen wird.


So viel zu den Tagen der Feierlichkeiten, die alles andere als nüchtern im Sinne der letzten beiden im Duden genannten Bedeutungen über die Bühne gehen sollen und auch werden. Doch was wird am Montag sein, wenn das Feiern vorbei ist und dann ein neuer Abschnitt eures Lebens beginnt? Vielleicht löst dann eine gewisse Art von Nüchternheit die Katerstimmung nach den Feierlichkeiten ab.

Von dem englischen Politiker Harold Macmillan stammt folgender Satz:
„Die Vergangenheit sollte ein Sprungbrett sein, nicht ein Sofa.“

Liebe Abiturientinnen, liebe Abiturienten!

Ihr könnt zu Recht stolz auf eure Leistungen sein und diese gebührend feiern. Aber sehr bald schon wird der heutige Tag und eure gesamte Schulzeit Vergangenheit sein und so schön es ist, es sich nach getaner Arbeit bequem auf einem Sofa zu machen und auszuruhen, so wichtig ist es, den Absprung nicht zu verpassen und etwas Neues zu wagen.

Meistens sieht es, wenn man unten am Sprungturm steht, gar nicht so hoch aus und man traut sich viel zu. Doch wenn man dann oben ist, kann der Blick vom Sprungbrett hinunter manchmal sehr unangenehm und furchteinflößend sein. Man steht oben auf dem Brett und es fehlt nur noch einen kleiner Schritt. Diesen kleinen – aber mitunter schwierigen – Schritt müsst ihr nun alle wagen. „Die Zukunft hat viele Namen. Für die Schwachen ist sie das Unerreichbare. Für die Furchtsamen ist sie das Unbekannte. Für die Tapferen ist sie die Chance.“ So der französische Dichter Victor Hugo. Was wollt ihr sein? Schwach, furchtsam oder tapfer?

Den Schritt hinunter vom Brett und damit in eure Zukunft könnt ihr nun wagen, denn ihr habt euch in den vergangenen Jahren viel Wissen angeeignet. Dieses konntet ihr in den letzten Wochen in umfangreichen schriftlichen und mündlichen Prüfungen unter Beweis stellen. Doch ich hoffe und würde mir wünschen, dass es uns, meinen Kolleginnen, Kollegen und mir, gelungen ist, euch in all den Jahren nicht nur das Faktenwissen der einzelnen Fächer zu vermitteln. Denn wichtiger noch als das Faktenwissen, das man heutzutage fast jederzeit und überall mit dem Smartphone abrufen kann und das in unserer hoch technologisierten Gesellschaft bedauerlicherweise immer mehr in den Hintergrund zu rücken scheint, ist die Fähigkeit, die Fakten richtig einzuordnen und diese kritisch zu hinterfragen. Sich selbst ein fundiertes Urteil bilden zu können, die eigene Meinung, den eigenen Standpunkt nach außen zu vertreten und für seine Überzeugungen einzustehen, dieses ist es, was meines Erachtens nach das Wort „Reife“ beschreibt, das auf den Zeugnissen steht, die ihr in wenigen Minuten in Händen halten werdet. Wenn wir euch heute mit dem Abiturzeugnis aus der Schule entlassen, ist dies einerseits zwar die Bestätigung, andererseits die Hoffnung, dass ihr diese Reife erworben habt. Gleichzeitig ist es auch die Aufforderung, der damit verbundenen Verantwortung gerecht zu werden.

Ihr habt mit dem Erwerb der allgemeinen Hochschulreife den höchsten Abschluss erreicht, den man an deutschen Schulen erwerben kann. Der Schritt nach vorne ins Berufsleben, in die Ausbildung oder ins Studium wird viel Aufmerksamkeit und auch Nüchternheit von euch erfordern und einen großen – wahrscheinlich gar den größten – Teil eurer Kräfte binden. Viele neue Dinge werden auf euch zu kommen, vielleicht ein neuer Wohnort, ganz gewiss aber euch bisher unbekannte Menschen. Ihr werdet euch neu orientieren und einleben müssen. Dies alles kann und wird euch sicherlich gelingen.

Doch trotz all dieser persönlichen Herausforderungen möchte ich euch ans Herz legen, auch einmal über den eigenen Tellerrand zu schauen. Einige von euch haben sich bisher neben der Schule schon für gemeinnützige Zwecke engagiert und ich möchte diejenigen ermutigen, diesen Weg weiterzugehen und auch noch andere dafür zu gewinnen, sich für unsere Gesellschaft einzusetzen. Wir brauchen junge Menschen, die bereit sind, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen. So können die Maßstäbe eures persönlichen Lebens, eure Werte im Berufsleben und der Umgang mit euren Mitmenschen die Maßstäbe und Werte für unsere Gesellschaft werden. Seid dazu bereit, für eure Überzeugungen einzustehen und für sie eure Stimme zu erheben. Seid tapfer und nutzt die Möglichkeiten, die sich euch bieten, auch wenn sie euch heute noch unerreichbar oder unbekannt erscheinen!

Einige von euch haben schon in beeindruckender Weise bei der Aktion „Döner statt rechts“ gezeigt, dass sie ihre Stimme erheben, wenn Extremisten versuchen, sich und ihren Ideen Raum zu verschaffen. Die Presse berichtete davon unter der Überschrift „Euer Hass ist unser Ansporn.“ Dies sind Worte, die Bundespräsident Joachim Gauck bei seiner Antrittsrede vor der Bundesversammlung sagte. Doch auch seine nachfolgenden Sätze sind bemerkenswert: „(Euer Hass ist unser Ansporn.) Wir lassen unser Land nicht im Stich. Wir schenken euch auch nicht unsere Angst. Ihr werdet Vergangenheit sein, und unsere Demokratie wird leben.“

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

die meisten von uns haben nie etwas anderes erfahren als Freiheit und Demokratie, doch ist unser Leben in Frieden und Freiheit für uns nicht mittlerweile selbstverständlich geworden? Sind wir uns dieses hohen Gutes überhaupt noch bewusst? Bundestagspräsident Norbert Lammert formulierte dies am 30. Januar dieses Jahres bei seiner Rede im Bundestag zum Gedenken an die Machtergreifung durch Adolf Hitler vor 80 Jahren wie folgt:

„Wir leben in Deutschland heute in einer gefestigten, selbstbewussten Demokratie. Sie ist uns aber nicht ein für allemal geschenkt, sondern muss täglich gestaltet, mit Leben erfüllt und – ja – auch verteidigt werden. [...]

,,Alles, was das Böse benötigt, um zu triumphieren, ist das Schweigen der Mehrheit, hat der frühere UN-Generalsekretär Kofi Annan einmal im Hinblick auf die nationalsozialistische Gewaltherrschaft gesagt. Das Wissen um die Vergangenheit ist daher auch eine verbindliche Verpflichtung für alle Demokraten, ihre Stimme gegen jegliche Ansätze und Formen von Ausgrenzung, Rassismus oder Fremdenfeindlichkeit zu erheben – und – vor allem – danach zu handeln!“

Machen wir uns bewusst, dass ein Angriff auf unsere Demokratie, unsere freiheitliche Grundordnung, immer auch ein Angriff auf uns alle und jeden einzelnen ist. Denn das erste, was totalitäre Herrscher einschränken, ist die persönliche Freiheit. Hannah Arendt, die Namensgeberin unserer Schule, sagte den Satz: „Gewalt beginnt, wo das Reden aufhört.“ Reden wir also, geben wir wie auch immer gearteter Gewalt keine Chance und halten wir unsere Demokratie am Leben!

Ihr habt bei der genannten Aktion „Döner gegen rechts“ ein nach außen sichtbares Zeichen gesetzt und ich möchte euch ermutigen, nein auffordern, immer wieder neu eure Stimme zu erheben, wenn die Freiheit unserer Gesellschaft, unser demokratisches System in Gefahr ist. Aber: Nicht immer werden die Gegner unserer freiheitlichen Grundordnung so offensichtlich auftreten und Plakate an Schulen kleben, viele ungute und besorgniserregende Entwicklungen laufen deutlich subtiler ab.

Ich wünsche uns allen, dass ihr euer Wissen und eure Fähigkeiten dafür einsetzt, Fehlentwicklungen zu erkennen und diesen vehement entgegen zu treten. Dann können die schon zitierten Sätze von Joachim Gauck Wirklichkeit werden: „Euer Hass ist unser Ansporn. Wir lassen unser Land nicht im Stich. Wir schenken euch auch nicht unsere Angst. Ihr werdet Vergangenheit sein, und unsere Demokratie wird leben.“

Liebe Abiturientinnen, liebe Abiturienten,

die Vergangenheit sollte ein Sprungbrett sein, nicht ein Sofa. Die Höhen eurer Sprungbretter werden ganz unterschiedlich sein, einige trauen sich schon den Sprung aus mehreren Metern Höhe, andere bevorzugen niedrigere Sprungbretter, wieder andere wagen sich, in für sie ganz unbekannte Gewässer zu springen.

Den Mut zum Sprung müsst ihr alle für euch selbst aufbringen und ich wünsche euch, dass ihr euch alle traut, den scheinbar kleinen Schritt nach vorne zu gehen, auch wenn die eine oder andere Bauchlandung droht.

Vieles in eurem Leben wird sich verändern und diese Veränderungen werden an euch nicht spurlos vorbei gehen. Menschen werden in euer Leben treten, ihr werdet neue Beziehungen knüpfen und dafür alte lösen. Diese Begegnungen und Erfahrungen werden euch prägen und eure Persönlichkeit weiter reifen lassen.

Wir stehen heute an einem besonderen Punkt unseres gemeinsamen Lebensweges. Denn heute trennen sich unsere Wege, ihr verlasst die Schule und beginnt einen neuen Lebensabschnitt.
Was bleibt? Euch bleibt das Abitur, das euch niemand mehr nehmen kann. Uns als Schulgemeinschaft bleiben neben dem Bild des 14. Abiturjahrgangs unserer Schule wohl auch einige Flecken auf dem Boden unserer Aula. Gemeinsam jedoch bleiben uns viele Erinnerungen an schöne Stunden aber auch an weniger gute Zeiten, die wir hier zusammen erlebt haben. Es bleiben uns allen auch Erinnerungen an Menschen, an einzelne Persönlichkeiten, die uns beeinflusst, uns gegenseitig und unsere Schulgemeinschaft geprägt haben.

Böses Ührchen: Ich sehe, dass meine Redezeit nun abgelaufen ist. Es bleibt mir aber noch Zeit für einen letzten Satz:Ich wünsche euch alles Gute für euren weiteren Lebensweg!

 

Autor: Jochen Strauß