Abiturrede 2007 - Herr Norbert Fuchs
Sehr geehrte Eltern und Gäste,
liebes Kollegium,
liebe Schülerinnen und Schüler,
vor allem aber liebe Abiturientinnen und Abiturienten!
Zunächst möchte ich mich für Ihr Vertrauen bedanken, die Abiturrede zu Ihrem heutigen Festtag halten zu dürfen. Wer mein Temperament kennt, weiß, dies zeugt von Ihrem Mut und Risikobereitschaft - nun - ich hoffe Sie nicht zu enttäuschen! Sicherlich, viele von Ihnen kennen mich seit Jahren oder hatten mich sogar seit der 7. Klasse ohne Unterbrechung in meinen Fächern, ich gestehe es daher gerne ein: ich freue mich über ihre Wahl!
Mit einem gelinden Anflug von Hybris mögen Sie, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, im Moment so oder ähnlich denken, wie es der kürzlich verstorbene Lyriker Robert Gernhardt formulierte in seinem Gebet der frischgebackenen Abiturientin/ des frischgebackenen Abiturienten:
Lieber Gott, nimm es hin
dass ich was Besond'res bin.
Und gib ruhig einmal zu
Dass ich klüger bin als du.
Preise künftig meinen Namen,
denn sonst setzt es etwas. Amen.
Gönnen wir es Ihnen, stolz auf sich sein zu dürfen, jetzt, da Sie das Abitur erreicht haben als rettendes Ufer (wenn auch einige mit allerletzter Kraft). Mögen wir Lehrerinnen und Lehrer uns auch so manches Mal als die gesehen haben, die mit vollen Händen Kamellen verteilten, empfanden Sie uns trotzdem noch immer als Punkteknauserer. Sei's drum - ich bin heute froh, sagen zu können: Sie haben es geschafft. Mit unserer Hilfe, klar (das ist unser Daseinszweck), aber: Sie haben es geschafft. Sie können stolz sein und sind es sicher auch, den höchsten erreichbaren Schulabschluss in Deutschland erworben zu haben und damit die Reife und Befähigung zu einem Studium an einer Universität.
Unsere herzliche Gratulation sei Ihnen daher hier noch einmal ausgesprochen! In Ihrer Zeit an unserem, nein besser, Ihrem Hannah-Arendt-Gymnasium Haßloch, erlebten Sie sich als eine Gemeinschaft, die mehr teilt als die Erinnerungen an gemeinsame Fahrten, sei es nach Berlin, Dresden, London, Wien, Prag, oder nach Polen, Kroatien und aufs Ijsselmer (da sage noch einer, die Musterdörfler seien provinziell).
Ihr Zusammenhalt zeigte sich auch durch eigene Theaterveranstaltungen, Ski- und Schwimmcamps, Big-Band-Konzerte sowie weitere zahlreiche Einzelveranstaltungen und -ereignisse. Sie haben dabei schon früh eine Neugier, Offenheit und Menschlichkeit gezeigt, die ich an Ihrem Jahrgang besonders zu schätzen gelernt habe und die Ihnen, wie ich glaube, eigen geblieben ist. Die damalige Klasse 7e z.B. wurde für mich ab dem September 2000 schnell die Projekt- und Testklasse für besondere Anlässe: sei es die Integration sprachlicher Problemfälle in unser damaliges Filmprojekt oder später, in der 9. Klasse, das Zeitungsprojekt mit IZOP und der Sparkasse oder in der 10. Klasse die Neuauflage der Umfrage zum Andechser Bierfest mit anschließender Power-Point-Präsentation im Rathaus vor dem Bürgermeister. Auch den fast einmonatigen Schichtunterricht in der 9. Klasse mit Unterrichtsbeginn zum Nachmittag hat diese Jahrgangsstufe bewältigt; damals berichtete sogar die Blöd-Zeitung über diesen bundesweiten Sonderfall.
Heute - nach 13 Jahren warten auf Freitag - sehen Sie sich bald neuen Herausforderungen ausgesetzt. Schon am morgigen Samstag wird es sich allerdings erweisen, ob Sie - als erster Jahrgang - der Tradition des Hauses erfolgreich und überzeugend widersprechen konnten. Nun, Emanzipation bedeutet immer auch Umdenken und das kostet natürlich Zeit und erfordert zusätzliche Anstrengung, aber diesen Preis sollten Sie, liebe Abiturienten, im Leben bezahlen, auch wenn Umdenken lästig sein kann. Wem das Gefühl für dieses Umdenken fehlt, dem sei der folgende Ausspruch eines französischen Malers und Schriftstellers spanischer Abstammung namens Picabia mit auf dem Weg gegeben: "Unser Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann." Das Denken muss aber nun nicht ständig opportunistisch die Richtung ändern, aber manchmal sollten wir schon zum Umdenken bereit sein. Zu wissen, wann dies der Fall ist, bleibt die eigentliche Problematik bei vielen Entscheidungen des Lebens, und dennoch: sich dieser Problematik zu stellen und nach einer Antwort zu suchen, wird sie, so hoffe ich, weder schrecken noch entmutigen. Zusammengefasst möchte ich Sie also darin bestärken, diese Tugenden Ihrer Schulzeit zu bewahren und zu leben. Dabei mögen Ihnen auch Sekundärtugenden wie Zuverlässigkeit und Standhaftigkeit zur Seite stehen. Zwar hat ein ehemaliger SPD-Vorsitzender weit vor ihrer Zeit diese versucht abzuqualifizieren, aber dafür ist er heute auch Chefideologe des linken Lagers - er hat es nicht besser verdient.
Werden Sie nun aber auch Erfolg haben im Leben? Wir wünschen es Ihnen gleich Ihren Eltern, Verwandten und Freunden. Sicherlich haben Sie mit dem heutigen Abitur eine zentrale Hürde bewältigt und werden auch weitere bewältigen, da bin ich mir sicher. Weniger sicher bin ich mir, woran man den Erfolg eines Menschen messen sollte. In der Leistungsgesellschaft, in der wir alle leben, werden Begriffe wie "Niederlage" oder "Scheitern" bei der Lebensgestaltung gerne an den Rand gedrängt, verdrängt, und "Erfolg" wird vordergründig allzu schnell in fahrlässiger Weise mit dem "Wert" eines Menschen gleichgesetzt. Die Komplexität des Lebens verweigert sich meines Erachtens hier einer schnellen Antwort auf den Erfolg des Lebens. Auch die eigene Steuerungsfähigkeit unterliegt Grenzen angesichts der Realitäten des Lebens, die sich gelegentlich anders als nur positiv darstellen, die schwere Krankheit eines nahen Verwandten, der Alkoholismus eines Freundes, die Arbeitslosigkeit des Vaters, die Gefühlskälte in einer Beziehung, das Scheitern eines Lebensentwurfes.
In all den Jahren haben Sie, die Abiturientinnen und Abiturienten, mich nie länger reden gehört, ohne dass ich dabei zur Veranschaulichung auf Film und Presse eingegangen bin. So auch diesmal: Der britische Filmemacher Michael Apted hat in einer Langzeitdokumentation 42 Jahre lang das Leben von 14 Menschen verfolgt. Alle sieben Jahre wurden die Auserwählten wieder gefilmt und gefragt: Hast du das erreicht, was du wolltest? Was ist aus deinem Leben geworden? Gezeigt werden sollte ursprünglich, wie viel Einfluss die Herkunft auf die Entwicklung von Menschen hat.
Der siebenjährige Neil weiß noch nicht, dass er einen schrecklichen Weg vor sich hat. Nach dem Abitur will er in Oxford studieren. Er scheitert mit seiner Bewerbung. Danach scheitert sein ganzes Leben. Er schlägt sich als Hilfsarbeiter durch. Aber mit 21 ist er noch voller Hoffnung: "Ich will einen Job, der mich befriedigt, heiraten, Kinder und ein gutes Gehalt." Nicht einer dieser Wünsche erfüllt sich. Als Obdachloser vagabundiert Neil durch England. Jahrelang. Seine Eltern sind Lehrer - und er wird ein Penner. "Neil ist die stärkste Figur. Sein Leben fesselt am meisten. Ein Furcht einflößendes Leben. Wir wussten nie, ob er überlebt oder plötzlich stirbt." Wenn er auch sonst nichts hat - das Herz eines Kämpfers hat er. Für Neil hält das Leben die größte Überraschung bereit. Mit 42 wird er Stadtrat in London - für die liberale Partei. Suzie etwa war mit 21 ohne jede Orientierung, wollte keine Kinder und keinen Mann. Jetzt ist sie verheiratet und dreifache Mutter. Menschen brauchen manchmal ganz schön lang, bis sie bei sich ankommen. Sie selbst sagt: "Jetzt fühle ich mich vielleicht zum ersten Mal wohl in meiner Haut. Jetzt kann ich die Entscheidungen, die ich in der Vergangenheit getroffen habe, akzeptieren - auch die falschen. Jetzt geht es mir endlich gut." Michael Apted fasst seine Beobachtungen wie folgt zusammen: "Ich glaube, dass die Gene den Kern unserer Persönlichkeit bestimmen", sagt Apted. "Aber sie bestimmen nicht, was jemand aus seinem Leben macht und schon gar nicht, was einem im Leben zustößt."
Das Leben befindet sich also auf einem Komplexitätsniveau, das unser Fassungsvermögen beinahe übersteigt. Douglas Adams beschrieb dies so: "Wenn man eine Katze auseinander nimmt, um zu sehen, wie sie funktioniert, ist das erste, was man hat, eine nicht funktionierende Katze." Es ist der ganze Mensch, der zählt. Was Ihnen noch in Ihrem Leben zustoßen wird, sei es auch positiver Natur, lässt sich trotz aller Zukunftsvisionen nicht vorhersagen. Sicher aber ist Ihnen die Unterstützung Ihrer Eltern und Familien, wie Sie es selbst in Ihrer Abi-Zeitung berichten. Ich möchte an dieser Stelle auch aus Lehrersicht betonen, wie konstruktiv und hilfreich ich Ihre Eltern erlebt habe, sei es, dass ich in meinem ersten Monat am Hannah-Arendt-Gymnasium mit einem von Ihnen, dem Sohn der SEB-Vorsitzenden, massiv aneinander geraten war oder, nur als weiteres Beispiel, das Elternpaar, welches sich ausdrücklich beim Schulleiter für meinen Einsatz im Interesse ihres Kindes bedankte. Ich halte diese partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen Eltern und Lehrerschaft, wie Sie sich auch aktuell in den Arbeitsgruppen zur Frage der Ganztagsschule zeigt, für eine wesentliche Ursache für die Attraktivität unserer Schule.
Es wäre schön, wenn Sie neben dieser Unterstützung durch ihre Eltern sich auch immer wieder bewusst machen, wie allgemein privilegiert der Mensch ist, der zur Schule oder Universität gehen kann. Das Bild am Dienstag auf der Titelseite der Rheinpfalz, das mit Bezug auf einen indischen Jungen in einer Nähfabrik von moderner Sklaverei spricht, sollte uns allen eine Mahnung sein. Dass man dann allerdings einen Tag vorher lesen musste, wie sich der, ich zitiere, "Haßlocher jugendliche Mob" mit der Polizei anlegt, zeigt nur deutlich, dass das Bewusstsein für die Maßstäbe im Leben besonders bei bildungsfernen Schichten zu fehlen scheint. Ich hoffe, dass Sie als Abiturientinnen und Abiturienten auch am Samstag dem enthemmten Alkoholkonsum entsagen werden, weil Sie es rational wollen und faktisch tun werden.
Lassen Sie mich mit dem konkreten Bezug auf drei der hier anwesenden Abiturienten schließen, die ich in Deutsch, Ethik und Sozialkunde sehr schätzen gelernt habe, für mich auch stellvertretend für Ihren Jahrgang: Da ist zum einen Andreas Schaaf zu nennen, der in Ihrer Abizeitung ein, ich zitiere, "aufgeklärtes Selbstbewusstsein" fordert und dies inhaltlich und sprachlich in höchst beeindruckender Form unter Beweis stellt (wieder einmal, kann ich da nur sagen!). Zum anderen sind das Anika Weber und Christoph Pagel, die sich sehr intensiv und auf hohem intellektuellem und sprachlichem Niveau mit der Frage beschäftigen, wie unsere Namensgeberin so in den Unterricht etabliert werden könnte, dass eine wirkliche Identifikation zumindest als Angebot möglich wäre.
Daher wünsche ich Ihnen im Sinne Hannah Arendts die Weisheit, das Wichtige und Wahre vom Unwichtigen und Unwahren zu unterscheiden, den Mut zu Ihrer eigenen Meinung zu stehen, und die Tatkraft, das, was sie für richtig und gut erkannt haben, durchzusetzen.
Alles Gute für Ihren weiteren Lebensweg!
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!